Mülheim. Die Zahl der Frauen, die in Mülheim eine Schwangerschaftskonflitkberatung gesucht und den Abbruch erwägt haben, ist stark gestiegen. Die Gründe?

Verwundert waren selbst die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle Donum Vitae über ihrem Jahresbericht für 2023. Denn die Statistik zeigt einen enormen und unerwarteten Anstieg bei der Schwangerschaftskonfliktberatung. In Mülheim/Oberhausen führte man insgesamt 726 Beratungsgespräche durch, davon 407 Erstberatungen – und darunter wiederum 237 Konfliktberatungen für Frauen in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft. „Die Inanspruchnahme der Schwangerschaftskonfliktberatung war 2023 so hoch wie nie zuvor seit Beginn unserer Beratungstätigkeit im Jahr 2001“, berichtet Ulla Höhne, Vorsitzende des Vereins Donum vitae e.V.

Woran liegt das? „Wir haben den Eindruck gewonnen, dass Corona einiges verändert hat. Viele Menschen denken seither verstärkt darüber nach, ob sie wirklich ein Kind in die Welt setzen wollen – oder auch ein zweites oder drittes Kind bekommen sollten. Die Frauen suchen das Gespräch. Das heißt aber nicht, dass tatsächlich auch so viele Schwangerschaftsabbrüche stattfinden“, weiß Höhne.

Mülheimer Beraterinnen: Viele junge Leute haben große Zukunftsängste

Über genaue Zahlen zu Abbrüchen verfügt man nicht, denn die Klientinnen müssen ja nicht rückmelden, was sie letztendlich tun. Zwar steige laut Bundesstatistik die Zahl der Abbrüche, aber die Erfahrung zeige auch: Nicht wenige Frauen entscheiden sich nach dem Gesprächstermin, bei dem sie den Beratungsschein erhalten, dann doch für die Schwangerschaft und ändern ihre Lebensplanung. „Dann kommen sie häufig wieder, um mit uns zu erörtern, wie es mit Kind weitergehen kann“, so die Vereinsvorsitzende.

Wie erklärt man sich, dass im letzten Jahr weitaus mehr Frauen als in den Jahren davor, einen Schwangerschaftsabbruch erwägten? Genannt werden laut Bericht zum einen partnerschaftliche und familiäre Gründe und zum anderen die körperliche und psychische Verfassung. Gefolgt von der wirtschaftlichen Situation und der Wohnungssituation sowie die (eigentlich) abgeschlossene Familienplanung.

Gefühl der Bedrohung wegen Corona, Klimawandel und Ukraine-Krieg

„Gerade im letzten Jahr wurde aber deutlich, dass viele junge Menschen große Ängste und Unsicherheiten bezüglich ihrer Zukunft haben. Corona, der Klimawandel, der Ukraine-Krieg. Die gesamte weltpolitische und weltwirtschaftliche Lage löst vor allem bei den sehr jungen Menschen ein Gefühl der Bedrohung aus, die Ängste sind so groß, dass der Wunsch nach einem Kind davon überlagert wird“, heißt es. Ein weiteres starkes Motiv dafür, die Schwangerschaftkonfliktberatung auszusuchen, ist außerdem nach wie vor die Aussicht, alleinerziehend zu sein - vor allem dann, wenn zu befürchten steht, dass der Kindesvater keinen Unterhalt zahlt. Nicht wenige Mütter oder Paare fürchten auch, später keinen Betreuungsplatz für das Kind zu finden.

Einen Kinderwunsch haben nicht alle Frauen und Männer. Die Mülheimer Beraterinnen treffen vermehrt auf Paare, die gewollt kinderlos blieben möchten.
Einen Kinderwunsch haben nicht alle Frauen und Männer. Die Mülheimer Beraterinnen treffen vermehrt auf Paare, die gewollt kinderlos blieben möchten. © dpa | Patrick Pleul

Der Wunsch nach Konfliktberatung ist bei den 27- bis 34-Jährigen am deutlichsten gestiegen. „Das ist ja auch die Phase, in der Frauen sich fragen: Wohin soll mein Leben gehen? Will ich Familie oder mich beruflich weiterentwickeln?“, sagt Ulla Höhne. Aber auch bei den Minderjährigen (14-17 Jahre) gab Zuwächse beim Beratungsbedarf. 72 Prozent der Schwangeren kamen alleine zum Konfliktgespräch in die Beratungsstelle. „Grund ist nicht immer, dass kein Partner da ist oder der Partner nicht mitkommen will. Oft möchten sich die Frauen auch erstmal selbst darüber klar werden, was sie wollen“, so die langjährige Beraterin.

72 Prozent der Schwangeren kamen (erstmal) alleine zur Konfliktberatung

Vermehrt treffen die Beraterinnen nach eigenen Aussagen mittlerweile auf Frauen oder Paare, „die für ihr Leben bewusst die Entscheidung getroffen haben, keine Kinder zu wollen“. Sie hören Sätze wie „Ich hatte nie einen Kinderwunsch“, „Wir sind auch ohne Kind glücklich“ oder „Ich sehe mich nicht in der Elternrolle“.

„Ich finde es grundsätzlich schön, dass Frauen heute sagen können, dass sie keinen Kinderwunsch haben. Früher galten sie als unnormal, wenn sie sich so äußerten“, findet Ulla Höhne.

Neue Räume, neue Angebote

Die Beratungsstelle Donum Vitae ist von der Schloßstraße zur Friedrichstraße 3 umgezogen. Die Miete dort sei wesentlich geringer, das gesparte Geld stecke man lieber in die Beratungsarbeit.

Seit ein paar Monaten gibt es bei Donum vitae auch die Fachberatung Psychotraumatologie für Frauen, die die Geburt als körperlich und seelisch verletzend erlebt haben und deshalb Beratung und Hilfe brauchen. Weitere Beratungsbereiche: Pränatale Diagnostik, vertrauliche Geburt, Frühe Hilfen, Unerfüllter Kinderwunsch, Trauerbegleitung.

Die Beraterinnen haben 2023 ganze 94 Gruppenveranstaltungen sexualpädagogischer und präventiver Art zu Schwangerschaft und Geburt durchgeführt, vor allem in Schulen. Das sind 16 mehr als im Jahr davor. Die Nachfrage ist viel größer. Für weitere Termine fehlt es an Personal und Zeit.

Die Beratungsstelle wird zu 80 Prozent vom Land finanziert, die restlichen 20 Prozent müssen aus kommunalen Mitteln, Mitgliederbeiträgen und Spenden erwirtschaftet werden. Ein Spendenkonto ist auf der Homepage www.donumvitae-MH-OB.de angegeben.

Gewollte Kinderlosigkeit: Manche Mülheimerinnen denken im Fall der Fälle dann doch um

Als individuelle Gründe für gewollte Kinderlosigkeit haben die Beraterinnen unter anderem ausgemacht: Lange Ausbildungs-/Studienzeiten, eine ausgeprägte berufliche Orientierung, den Wunsch nach finanzieller Sicherheit, den Drang nach Unabhängigkeit, aber auch prägende schlechte Erfahrungen in der Herkunfstfamilie. Aber auch gesellschaftliche Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Wohnungs- und Betreuungsknappheit oder Kriegsangst spielen eine Rolle.

Kommt es dennoch zur ungeplanten Schwangerschaft, sei die Reaktion darauf allerdings geteilt. „Manche entscheiden sich für den Abbruch. Für manche ist eine vertrauliche Geburt, ist die Freigabe zur Adoption ein Weg. Andere hinterfragen ihre bisherige Einstellung und schlagen dann doch einen anderen Weg ein. Für sie ist ein Leben mit Kind plötzlich doch das Richtige. Wir erleben in der Beratung alles“, berichtet Ulla Höhne.

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