An Rhein und Ruhr. Bundesweit steigen die Fallzahlen von Femiziden. Auch in NRW sind Frauen öfter von Gewalt betroffen. Was sich laut Experten ändern muss.

Ihr Lebensgefährte lauert ihr auf, als sie aus der Kirche kommt. Dann übergießt er die 33-Jährige mit einem Fünf-Liter-Benzinkanister und zündet sie an. Die aus Uganda stammende Marathon-Läuferin Rebecca Cheptegei, die noch vor drei Wochen an den Olympischen Spielen in Paris teilgenommen hatte, erliegt später ihren schweren Verletzungen. Wenige Tage zuvor: Eine 36-jährige Mutter von vier Kindern wird in Berlin von ihrem Ex-Mann getötet, kurz darauf ersticht ein Mann seine 28-jährige Ex-Partnerin, ebenfalls in der deutschen Hauptstadt. Alles in der vergangenen Woche.

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Wer denkt, Taten wie diese passierten nur im weit entfernten Kenia oder in Berlin: Im Oktober 2023 werden Alia A. und ihr sieben Monate alter Sohn in Duisburg-Walsum von Mann und Vater überfahren, die junge Mutter danach zu Tode geprügelt. Und nur wenige Monate ist es her, dass in Hünxe eine 50-jährige Imbissbesitzerin mutmaßlich von ihrem Ehemann mit 27 Messerstichen getötet wird. Das einzige Motiv: Er verdächtigte sie, ihm untreu geworden zu sein.

Dass es sich bei diesen Taten um keine Einzelfälle handelt, weiß Martina Schmitz. Sie ist Geschäftsführerin des Dachverbands der autonomen Frauenberatungsstellen in Nordrhein-Westfalen. „Aus unseren Erfahrungen und Berichten der Beratungsstellen wissen wir, dass die Fallzahlen von Gewalt gegen Frauen, die häufig eine Vorstufe zu Femiziden darstellt, zugenommen haben“, erklärt sie im Gespräch mit unserer Redaktion. „Die Frauenberatungsstellen verzeichnen eine gestiegene Anfrage für Beratung bei Gewalt in Beziehungen und berichten auch, dass die Qualität der angewendeten Gewalt deutlich gestiegen ist.“

Femizide in NRW: Zahlen fließen nicht explizit in die Statistik ein

155 Frauen wurden 2023 nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) deutschlandweit durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet. Fast jeden zweiten Tag also. Ein Jahr zuvor waren es 133 Frauen. Seit 2015 erstellt das BKA kriminalistische Auswertungen zur Partnerschaftsgewalt in Deutschland, Zahlen für NRW liegen hingegen nicht vor. „Ein Problem“, wie Aysel Sirmasaç, ebenfalls Geschäftsführerin des Dachverbands, erklärt. Der Grund: „Da das Tatmotiv bisher in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) nicht zu erfassen ist, ist eine Auswertung dieser Taten und damit eine Unterscheidung zu anders motivierten Tötungsdelikten zum Nachteil von Frauen, wie etwa aus Motiven wie Habgier oder zur Verdeckung anderer Straftaten, derzeit nicht möglich“, erklärt eine Sprecherin des Landeskriminalamts NRW.

Zurzeit seien mehrere Gremien auf Bundesebene, an denen sich auch NRW beteiligt, sowohl mit der Erarbeitung eines „gemeinsamen“ Begriffsverständnisses und der Definition des Wortes „Femizid“ als auch mit der „Optimierung etwaiger Erfassungsmöglichkeiten in den polizeilichen Statistiksystemen“ beschäftigt. „Hierdurch soll zukünftig ermöglicht werden, dass Fallzahlen dargestellt, Entwicklungen festgestellt und entsprechende präventive Maßnahmen zielgerichtet angepasst werden können“, so die Sprecherin weiter.

Dachverband autonomer Frauenberatungsstellen NRW: „Femizide sind keine Dramen“

Ein Schritt, den auch der Dachverband autonomer Frauenberatungsstellen in Nordrhein-Westfalen begrüßt. „Es fehlt die Sichtbarkeit“, beklagt Sirmasaç. So sei die Erfassung von Femiziden wichtig, um das Ausmaß des Problems klarer zu machen. Die Erfassung erkenne den Femizid als spezifisches Phänomen „der geschlechtsspezifischen Dimension der Gewalt“ an und ermögliche eine wichtigere, gesellschaftliche und politische Debatte über Ursachen und Präventionsstrategien.

Dabei könnte vor allem auch die klare Definition laut Martina Schmitz zur besseren Wahrnehmung beitragen: So sollten Begriffe wie „Beziehungsdrama“ nicht mehr verwendet werden, wenn es um die Tötung einer Frau geht. „Der Begriff Beziehungsdrama verharmlost das Ausmaß und die Ernsthaftigkeit von Femiziden und Gewalt gegen Frauen. Femizide sind keine ‚Dramen‘, sondern Ausdruck von tödlicher Gewalt gegen Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Eine solche Wortwahl verschleiert die Machtstrukturen und die systemische Gewalt hinter den Taten und trägt zur Entpolitisierung des Themas bei.“

Häusliche Gewalt in NRW: Zahlen steigen kontinuierlich

Seit Jahren nehmen die Fälle von häuslicher Gewalt in Nordrhein-Westfalen zu. Im Jahr 2022 wurden im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt in NRW rund 58.6000 Fälle polizeilich bekannt – 9,7 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in NRW ist im Vergleich zum Vorjahr um 8,9 Prozent gestiegen. Waren es im Jahr noch 58.628 Betroffene, stieg die Zahl im Jahr 2022 auf 63.853. 72 Prozent der Opfer waren dabei weiblich, wie aus dem Lagebild des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts (LKA) zur häuslichen Gewalt hervorgeht.

Bei mehr als der Hälfte der Delikte handelte es sich um vorsätzliche einfache Körperverletzung. In knapp einem Viertel der Fälle kam es zu psychischer Gewalt wie Bedrohung, Nötigung oder Stalking. Insgesamt 54 Opfer wurden dem Lagebild zufolge 2022 durch häusliche Gewalt getötet.

Das Lagebild „Häusliche Gewalt“ des LKA wurde erstmals für das Berichtsjahr 2020 erstellt und betrachtet ausschließlich Fälle, in denen Opfer und Tatverdächtige zum Tatzeitpunkt in einem gemeinsamen Haushalt leben, unabhängig vom Beziehungsverhältnis.

Gewalt gegen Frauen: Dachverband NRW fordert Gewalthilfegesetz

Präventiv will nun auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus vorgehen. „Unser Land hat ein massives Gewaltproblem gegen Frauen. Das muss aufhören“, sagte die Grünen-Politikerin nach den Taten der vergangenen Woche in Berlin. Das sogenannte Gewalthilfegesetz, das sich derzeit noch nicht im Gesetzgebungsverfahren befindet, soll Abhilfe leisten. Es soll allen Frauen, die von Gewalt betroffen sind, einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung bei geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt einräumen.

Auch der Dachverband autonomer Frauenberatungsstellen NRW fordert ein solches Gewalthilfegesetz. Laut Schmitz brauche es außerdem eine bessere Finanzierung und den Ausbau von Frauenhäusern und Beratungsstellen in NRW, eine konsequentere Strafverfolgung bei häuslicher Gewalt, die verbesserte personelle Ausstattung sowie Sensibilisierung und Schulung der Polizei und Justiz, um Gewalt gegen Frauen „als solches frühzeitig zu erkennen, ernst zu nehmen und entsprechend im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten zu handeln“. Denn: „Jede Frau, die von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht wird, ist eine Frau zu viel“, so Martina Schmitz abschließend.