Schermbeck. Jedes Jahr gibt es einen Waldzustandsbericht. Doch wie entsteht der eigentlich? Wir haben Förster im Dämmerwald bei Schermbeck begleitet.

Kay Genau zückt ein gelbes Maßband, hakt es in der faltigen Eichenrinde fest und spannt es einmal um den Baum. „Sieben-Null-Neun“ ruft er seinem Kollegen zu. Holger Keding notiert den Durchmesser des Baumes auf einem Tablet: knapp 71 Zentimeter. Die 120-jährige Eiche, die hier im Dämmerwald bei Schermbeck vermessen wird, ist nicht irgendeine Eiche. Sie ist einer von rund 12.250 Bäumen in NRW, deren Zustand seit 40 Jahren überwacht wird.

An ihr und den anderen Bäumen wird der Waldzustand gemessen, der seit 1984 erhoben wird. Deswegen können Keding und Genau auch nachsehen, ob die Eiche zugelegt hat. Oder womöglich abgenommen. Das wäre ein schlechtes Zeichen, deutet auf weniger Wasser im Baumstamm. In diesem Sommer, wo die Mücken auch hier fröhlich durchs Unterholz tanzen, eher unwahrscheinlich.

Wie geht es uns denn dieses Jahr? Der Brusthöhendurchmesser wird ermittelt: Immer 1,30 Meter über dem Waldboden wird alljährlich kontrolliert.
Wie geht es uns denn dieses Jahr? Der Brusthöhendurchmesser wird ermittelt: Immer 1,30 Meter über dem Waldboden wird alljährlich kontrolliert. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Seit 40 Jahren also wird systematisch geschaut, wie es dem Wald in Deutschland geht. Und dafür fahren Keding und Genau an diesem Morgen in den Dämmerwald. Ein spezielles Navi weist ihnen den Weg zu einem von 567 Messpunkten in NRW: Das ganze Land ist mit einem Raster überzogen im Abstand von je vier Kilometern. 567 Rasterpunkte lagen 1984 in einem Waldgebiet. Mittlerweile sind rund 60 Messpunkte ausgefallen: Dort stehen schlicht keine Bäume mehr. Hauptgrund: Das massive Fichtensterben im Sauer- und Siegerland der vergangenen Jahre.

Denn für einen Waldzustandsbericht braucht es Bäume. „Und die müssen mindestens fünf Jahre alt sein“, sagt Genau. Für die Datensammlung werden immer vier Gruppen zu je sechs Bäume an einem Standort gebraucht, die jeweils höchsten ausgewählt und mit einer Sprühdose markiert. Vier Baumgruppen mit je sechs Bäumen gibt es an jedem Messpunkt.

Sechs Eichen bilden im Dämmerwald die Kontrollgruppe

Hier, unweit eines Kreuzungspunktes mit vielen Waldwegen, können auch Spaziergänger und Wanderer die Kennzeichnung entdecken: Wir sind in der Baumgruppe IV, Messpunkt 50649. Hier sind es seit 1984 sechs Eichen, die geprüft werden. Nach der Messung des Durchmessers werfen Keding und Genau einen prüfenden Blick in die Krone. Nicht ganz einfach, denn dafür müssen sie mitten im Wald so weit vom Baum weg gehen, wie dieser hoch ist. Klare Sicht haben sie dann dennoch nicht immer.

Holger Keding (Förster) bei der so genannten „Kronenansprache“: Mit dem Fernglas bewertet er die Transparenz der Baumkrone.
Holger Keding (Förster) bei der so genannten „Kronenansprache“: Mit dem Fernglas bewertet er die Transparenz der Baumkrone. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Hier aber sehen sie durch das Fernglas: Auch diese Eichen werden am Ende im roten Bereich landen, gelten als schwer geschädigt. „Die Krone ist zu 40 bis 45 Prozent transparent“, sagt Genau. Anhand eines kleinen Buches mit zahlreichen Fotos kann er zeigen, wie es um das Laubdach, die Bonitur, bestellt ist: Die Lichtkrone, also die obersten drei, vier Meter der Eiche, sind relativ durchlässig. „Eichentriebschäden“, diagnostiziert Genau.

Mehltau und Raupenfraß schädigen Eiche

„Vermutlich Schadfraß im Frühjahr“, sagt er. Raupen haben sich an den jungen Trieben gütlich getan. Die Eiche kann zwar, anders als andere Bäume, nachschieben, bildet den sogenannten Johannistrieb in der zweiten Junihälfte aus. Aber auch dem geht es nicht gut: „Der hat Mehltau“, sagt Genau. Die jungen Blätter konnten vor der Sommerwärme nicht rechtzeitig eine Wachsschicht ausbilden, da hatte der Pilz leichtes Spiel.

Am Messpunkt im Dämmerwald sieht der Wald auf den ersten Blick aus wie ein Kindheitsidyll: Gestrüpp, blühende Pflanzen am Wegesrand, nachwachsende kleine Bäume im Schatten der zwanzig, dreißig Meter hohen Birken, Kiefern, Buchen und Eichen: Ein bunter Mischwald also, in dem sich reichlich Rot- und Schwarzwild tummel, aber auch schon mal der Wolf umherstreift.

Hat schon Gelb: Nicht gut, wenn Eichenblätter schon Ende Juli sich verfärben. Pilzbefall setzt den Bäumen in Schermbeck zu. Das gibt am Ende Rot für diese Eiche: Der Baum gilt als schwer geschädigt.
Hat schon Gelb: Nicht gut, wenn Eichenblätter schon Ende Juli sich verfärben. Pilzbefall setzt den Bäumen in Schermbeck zu. Das gibt am Ende Rot für diese Eiche: Der Baum gilt als schwer geschädigt. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Hier wird auch nicht für die Holzindustrie großflächig gerodet, hier werden eher Einzelbäume entnommen. Dennoch achten Genau und Keding auch auf Fällschäden an ihren Bäumen: Wurde die Rinde gestreift? Hat das Wurzelwerk Schaden genommen, als Bäume aus dem Bestand geholt wurden?

Genau und Keding kontrollieren an diesem Messpunkt nicht nur den Zustand der Bäume, sie kontrollieren indirekt auch die Kontrolleure. Denn: Den Zustand eines Baumes korrekt zu beschreiben, das ist in etwa so, als ob ein Arzt eine Diagnose stellt: Jeder schätzt das Krankheitsbild etwas anders ein. Deswegen werden vor jeder Waldzustandserhebung alle Prüfer geschult und ihnen die Kriterien noch einmal ins Gedächtnis gerufen.

Kontrolle im strengen Raster: Es ist genau festgelegt, welche Bäume an welchem Standort beim Waldzustandsbericht bewertet werden.
Kontrolle im strengen Raster: Es ist genau festgelegt, welche Bäume an welchem Standort beim Waldzustandsbericht bewertet werden. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Es sind freiberufliche Forstfachkräfte, zehn an der Zahl, die zwischen Mitte Juli und Ende August die 567 Messpunkte in NRW kontrollieren müssen. Denn dann ist der Wald am vitalsten: Alle Bäume sind im Vollaustrieb. Vom Nordwesten, im Klever Reichswald, bis zum fürstlichen Wald bei Bad Berleburg. Genau und Keding werden ihre Messdaten mit denen des freiberuflichen Teams vergleichen.

Kommt es häufiger zu abweichenden Einschätzungen, wird das Erfassungsteam von den vier Förstern des Landesbetriebs Wald und Holz noch einmal nachgeschult, die Kriterien angeglichen. Denn die Messungen sollen ja im ganzen Land und über die gesamte Zeitstrecke vergleichbar sein.

Ob der viele Regen hilft, ist noch unklar

Und, dürfen wir hoffen, dass es dem Patienten Wald in diesem Jahr nach all dem Regen endlich einmal besser geht? „Ich bin mir nicht sicher“, sagt Genau. Insgesamt, so die bittere Botschaft, geht es dem Wald in NRW in den letzten 40 Jahren immer schlechter: Das Gedächtnis der Wälder ist baumlang.

„Die Schadstoffe, die über Jahrzehnte in den Boden gelangt sind, verschwinden halt nicht so schnell“, sagt Genau. In diesem Jahr wird es daher auch wieder einen Bodenzustandsbericht geben. Dessen Daten sollen im September gemeinsam mit dem Waldzustand diskutiert und in Fachkreisen bewertet werden.

Daher der Name Dämmerwald? Nein, eher nicht. Der 1200-Hektar-Staatsforst liegt nahe der Ortschaft Damm in Schermbeck, Kreis Wesel.
Daher der Name Dämmerwald? Nein, eher nicht. Der 1200-Hektar-Staatsforst liegt nahe der Ortschaft Damm in Schermbeck, Kreis Wesel. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Allerdings, das räumt Genau ein, sei die Luft in NRW sicher besser geworden. „Aber es sind neue Gifte unterwegs. Stickoxide, Feinstaub.“ Und auch die Hitzejahre 2018 und 2019 hat der Wald noch nicht vergessen. „Wenn Buchen einmal ihr Laub verlieren, verbrennt die Hitze die darunter liegenden Knospenansätze und es können auch keine neuen Blätter gebildet werden“, sagt Genau. Die Krone wird kahl über die Jahre, dafür treiben unten am Baum neue Äste aus: Die Buche schrumpft sich gesund.

Können wir denn aus dem Waldzustandsbericht etwas lernen für die Zukunft? Wie sollte der Wald aussehen, der die nächsten 100 oder 150 Jahre dem Klimawandel widersteht? „Schwer zu sagen“, sagt Keding. „Vermutlich werden wir hier dann auch eher Wälder haben, die an Savannenwälder erinnern.“ Mit neuen Arten, behutsam in die Bestände eingebracht, soll der Wald vielfältiger und damit widerständiger werden: Nussbaumarten aus Südeuropa, Douglasien aus Nordamerika beispielsweise wären denkbar.

Den Fichten geht es besser – auf dem Papier

Bis sich das im Waldzustandsbericht niederschlägt, wird es Jahrzehnte dauern. Die Logik der Erhebung führt beispielsweise dazu, dass es den Fichten jetzt besser geht als früher: Zwar sind rund 60 Prozent der Bäume verschwunden. An diesen Messpunkten müssen die ersten Fichten fünf Jahre alt werden und etwa bierdeckeldick werden, ehe sie reif für die Markierung und Teilnahme an der Waldzustandserhebung sind.

Folge dieser unfreiwilligen Radikalverjüngung: Bei den Fichten registrieren Gutachter plötzlich einen gesünderen Baumbestand: Denn das Durchschnittsalter der Fichten an den Messpunkten hat sich zwischen 2018 und 2023 von 70 auf 35 Jahre halbiert. Mit anderen Worten: Der Waldzustandsbericht spiegelt immer auch vor allem die Vitalität der ältesten und größten Bäume an einem Standort.

Ende des Jahres soll der nächste Waldzustandsbericht für NRW fertig sein, der Bund fasst die Ergebnisse aller 16 Länder dann etwa ein halbes Jahr darauf zusammen. Dann wird sich zeigen, ob das feuchtwarme Jahr 2024 dem Dauerpatienten Wald ein wenig Linderung verschafft hat. Bis dahin werden Genau und Keding noch etliche Male mit dem Maßband 1,30 Meter über dem Waldboden den Brusthöhendurchmesser ermittelt und mit dem Fernglas in die Höhe geblickt haben, um die Krone zu begutachten.