Amsterdam. Elfjähriger soll nach Armenien ausgewiesen werden – wo er nie war. Der Fall steht exemplarisch für die neue niederländische Asylpolitik.

Seine wohl letzten Tage in der Heimat verbringt Mikael auf dem Bolzplatz. Im Trikot seines Lieblingsvereins Ajax Amsterdam verausgabt er sich beim Fußballspielen. Ablenkung vor einer Reise ins Ungewisse. „Es geht mir relativ gut. Ich versuche, nicht über meine Situation nachzudenken“, sagt der Elfjährige, der nach den Sommerferien aufs Gymnasium wechseln würde – falls er dann noch in Amsterdam lebt. Aber das ist äußerst unwahrscheinlich. Mikael soll abgeschoben werden. Nach Armenien, woher seine Eltern stammen. Eine ehemalige Sowjetrepublik im Kaukasus, in der er noch nie war, in der er niemanden kennt.

Mikaels Schicksal bewegt viele Niederländer. Die Zeitungen und das Fernsehen berichten, 80.000 Menschen haben eine Petition gegen die Abschiebung unterzeichnet, eine einflussreiche, aus dem Iran stammende Influencerin fordert: „Mikael muss bleiben!“. Am Mittwochabend wollten Sympathisanten für das Bleiberecht des Kindes und seiner Mutter demonstrieren. Vor der Grundschule im Südosten Amsterdams, die der Junge bis zu den Ferien besucht hat, und vor dem Bezirksamt seines Stadtteils. Mikaels Problem ist, dass ihm die Solidaritätsbekundungen nichts nützen. Denn die neue Rechtsregierung in Den Haag statuiert an ihm ein Exempel.

Geert Wilders verspricht Niederländern strenge Asylpolitik

Die „strengste Asylpolitik, die es jemals gab“, hat Geert Wilders (60), der Strippenzieher der Regierung, den Wählern seiner Partei für die Freiheit (PVV) versprochen, die bei der niederländischen Parlamentswahl im November überraschend stärkste Kraft geworden war. Jetzt liefert die Koalition, was der platinblonde Populist aus Venlo angekündigt hat.

Um die Migration strikt zu reglementieren, setzt Wilders auf eine heftig umstrittene Frau: Er hat Marjolein Faber zur Asylministerin gemacht – eine 64-jährige Parteifreundin aus der Provinz Utrecht, die mit extremen Standpunkten zum Islam und zur Einwanderung aufgefallen ist. Die frühere IT-Spezialistin vertrat jahrelang die Verschwörungserzählung der großen „Umvolkung“, wonach Eliten in den westlichen Demokratien gezielt Migranten nach Europa holten, um die Mehrheitsbevölkerung zu ersetzen. Nun entscheidet sie über Mikaels Schicksal. Sie könnte die Abschiebung aussetzen.

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Faber aber gibt sich fest entschlossen, Mikaels Landesverweis durchzusetzen. Dass der Junge nie woanders war als in den Niederlanden, ist für sie kein Kriterium. Die Ministerin gewährt keine Gnade: „Ich kann auf individuelle Befindlichkeiten nicht eingehen“, hält sie den Unterstützern des Jungen entgegen. In sozialen Netzwerken pocht sie auf den Standpunkt der Regierung: „Ich kann sagen, dass wir uns an Recht und Gesetz halten.“

Es ist eine kleine Pflichtverletzung, die dazu führt, dass Mikael das Land verlassen soll. Seine Eltern kamen 2010 aus Armenien in die Niederlande und stellten dort einen Asylantrag. Ihr Sohn wurde in Amsterdam geboren. Der Antrag wurde abgelehnt. Die Eltern, inzwischen getrennt, erhielten zunächst eine Duldung. Kürzlich entschied das höchste Gericht schließlich, dass Mikaels Mutter Gohar Matosyan (56) und ihr Sohn nicht länger bleiben dürfen. Denn die beiden, hieß es zur Begründung, hätten während des langjährigen Verfahrens einmal über Monate Meldebestimmungen nicht erfüllt. Ein folgenschwerer Verstoß gegen die Duldungsbestimmungen.

Elfjähriger Mikael kennt Armenien nicht

Mikael lebt in einem Zustand maximaler Ungewissheit. Wann er und seine Mutter ausreisen müssen, ist unklar. Er hat keine Vorstellung davon, was ihn in Armenien erwartet. Die Einwanderungsbehörde, klagte Mikael einem Reporter der Amsterdamer Lokalzeitung „Het Parool“, „könnte mich genauso gut nach Ghana schicken. Ich kenne dieses Land genauso wenig wie Armenien.“

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Amsterdams Bürgermeisterin Femke Halsema, eine 58-jährige Grünen-Politikerin, appelliert an Ministerin Faber, die Abschiebung doch noch zu stoppen. „Mikael ist Amsterdamer. Er gehört hier zu seinen Freunden auf die Schule“, sagt sie. Der Fall verdeutliche, dass die Asylregelung zu streng gehandhabt werde. „Der Wunsch, weniger Migranten in den Niederlanden zu haben, kann niemals so stark sein, dass er auf Kosten eines elfjährigen Jungen geht, der kein anderes Land als die Niederlande kennt.“ Faber zeigt sich vom Appell aus dem Amsterdamer Rathaus unbeeindruckt.

Die Niederlande und ihre Rechtsaußen-Regierung

Mikaels befürchtete Abschiebung erregt auch deshalb große Aufmerksamkeit, weil vielen Niederländern zum ersten Mal seit der Vereidigung Anfang Juli dämmert, dass die am weitesten rechts stehende Regierung der Landesgeschichte beim Thema Asyl Ernst macht. Mikael sei nicht das einzige in den Niederlanden lebende Kind, das ausgewiesen werden könnte, sagt Mylène Tabernal, Sprecherin der in Leiden ansässigen Hilfsorganisation Defense for Children. „Es gibt Hunderte Kinder, die in den Niederlanden verwurzelt sind und denen die Abschiebung droht. Für diese Kinder muss es eine Lösung geben“, verlangt Tabernal.

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Noch schafft es Mikael, sich durch Fußball auf andere Gedanken zu bringen. Er ist seinen Unterstützern dankbar. Und ahnt doch, dass es nicht gut aussieht für ihn und seine Mutter. Die beiden hoffen auf ein Wunder.