Amsterdam. „Wilders zeigt jedem den Mittelfinger“, sagt Politikwissenschaftlerin Julia Wouters. Die Niederländer seien gar nicht allzu tolerant.
Die neue Rechtsregierung in den Niederlanden agiert bislang relativ geräuschlos, aber das wird so nicht bleiben. Seit knapp drei Wochen ist die Koalition aus der radikal rechten Partei des Populisten Geert Wilders (60) mit drei anderen rechten oder rechtsliberalen Kräften im Amt - und hat einen Politikwechsel angekündigt: Sie verspricht den Niederländern die strengste Asylpolitik, die es jemals gab und will Zuwanderung drastisch einschränken. Die Amsterdamer Politikwissenschaftlerin Julia Wouters erklärt, warum das einst als besonders liberal geltende Land nach rechts gerückt ist.
Frau Wouters, viele Niederländer haben für Wilders gestimmt - weil sie eine Wut auf Migranten empfinden?
Damit beginnt es nicht unbedingt. Die Menschen sind frustriert, weil sie keine Arbeit finden oder ihre Arbeit nicht mehr existiert. Sie können keine bezahlbare Wohnung finden oder sie stehen auf Wartelisten im Gesundheitssystem. Vielleicht finden sie keine gute Schule für ihre Kinder. Das Leben wird immer unsicherer. Das sind die Frustrationen, die viele Menschen teilen. Parteien wie die VVD, die 14 Jahre lang den Ministerpräsidenten gestellt hat, suchen nach einer einfachen Lösung. Und dadurch werden bestimmte Gedankenanstöße gegeben: Es liegt angeblich daran, dass wir zu viele Asylbewerber haben. Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg, auch die Wohnungen. Sie belasten das Gesundheitssystem zu sehr. Und wenn wir das einfach stoppen, dann wird alles wieder so, wie es vorher war. Alles wird wieder gut.
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Warum ist Wilders so populär?
Ich sehe ähnliche Dynamiken wie bei Donald Trump - ein Politiker, der allem und jedem den Mittelfinger zeigt. Gleichzeitig muss ich aber sagen, dass die bisherigen Regierungsparteien es nicht geschafft haben, zu liefern und die Menschen abzuholen. Bei ihnen hieß es immer: Das sind jetzt die Regeln aus Brüssel, deswegen machen wir das so. Das kam bei den Wählern nicht gut an, weil sie sich nicht gehört gefühlt haben.
Glauben Sie, dass sich die von Wilders geschmiedete Koalition entzaubert - jetzt, wo sie Entscheidungen treffen muss?
Das sagen viele Menschen derzeit, aber es gibt da zwei Dinge, die mir wirklich Angst machen. Die Aggressionen und der Hass würden ja nicht anschließend einfach wieder durch Zauberhand verschwinden. Wir sehen es ja jetzt schon: Dinge, die früher ganz leise beim Stammtisch gesagt wurden, werden jetzt durch bekannte Niederländer unverblümt im Fernsehen vorgetragen.
Und der zweite Punkt ist, dass Parteien wie die von Geert Wilders sehr gut darin sind, immer das Opfer und niemals selbst an etwas Schuld zu sein. Trump ist dafür ein fantastisches Beispiel. Alles, woran er gescheitert ist, lag immer an seinen Vorgängern oder Nachfolgern. Die Medien waren schuld oder die Richter waren schuld. Das sieht man auch jetzt hier.
Wilders kann die schrecklichsten Dinge über Menschen sagen, aber sobald jemand etwas über ihn sagt, wird er angeblich dämonisiert. Es liegt nie an ihm. Seine Anhänger denken das auch, dass Wilders eigentlich unser Retter ist, aber dass die anderen das verhindern wollen. Ich finde es besorgniserregend, dass Menschen das mitmachen. So zerbröckelt ein demokratischer Rechtsstaat.
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Wie liberal ist die niederländische Gesellschaft wirklich?
In den Niederlanden haben wir ein falsches Selbstbild von uns. Wir sehen uns als eine sehr tolerante, moderne Gesellschaft. Wir halten uns für absolut nicht rassistisch, so dass wir jeden Vorwurf des Rassismus als verletzend empfinden. Leute, die Wilders gewählt haben, erklären immer sofort, dass sie nicht rassistisch seien oder dass Wilders nicht rassistisch sei. In anderen Ländern in Europa sind Menschen gegen rechte Regierungen auf die Straße gegangen, weil sie schockiert sind über das, was in ihrem Land geschieht, und weil sie ein Zeichen setzen wollten. Aber wir in den Niederlanden spielen das sofort herunter, normalisieren es sofort. Weil wir angeblich nicht so sind.
Gibt es ein Mittel gegen den Rechtsruck?
Das ist natürlich die große Aufgabe. Die kanadische Autorin Naomi Klein hat es meiner Ansicht nach sehr gut gesagt: Rechte Parteien liegen mit den Fakten falsch, aber mit den Emotionen richtig und linke Parteien sind inhaltlich zwar gut, lassen aber die Emotionen außen vor. Da liegt die Aufgabe für die nächsten Jahre. Wie können Parteien die Gefühle der Menschen ansprechen, die sich allein gelassen fühlen und den Eindruck haben, völlig die Kontrolle verloren zu haben? Dass diese Menschen sich wieder gehört fühlen? Das ist die Herausforderung für die Zukunft.