Mülheim. Für britische Soldaten aus Malta war Mülheim in den 1960ern die Befreiung von strenger Sexualmoral. Was heute an das königliche Militär erinnert.
Als der Geschichtslehrer und Bundeswehroffizier Joachim Speck 2019 bei einem Besuch auf Malta von einem Mann hörte: „Ich war mal Soldat in Mülheim an der Ruhr“, glaubte erst an einen Scherz, ehe er die alten Fotos des Veteranen der Royal Malta Artillery (RMA) sah. Die Geschichte ließ ihm keine Ruhe und führte ihn nach Mülheim.
Hier fand er mithilfe des Stadtarchivars Jens Roepstorff und des Rathaus-Mitarbeiters Klaus Beisiegel die Spuren der 450 maltesischen Soldaten und ihrer 50 Zivilangestellten eines maltesischen Transportregiments, das von 1964 bis 1970 als Teil der Britischen Rheinarmee in den Wrexham Barraks stationiert war. Deren Gelände zwischen Steinknappen, Zeppeinstraße und Witthausbusch kennen wir heute als Wohnpark Witthausbusch.
Heute von der Mülheimer Arbeiterwohlfahrt genutzt
„Die gemeinsame Sicherung von Frieden und Freiheit in Europa ist heute leider genauso aktuell, wie vor 60 Jahren, als die Soldaten aus der damaligen britischen Kronkolonie Malta im Rahmen der Nato ihren Beitrag zur Sicherung der westdeutschen Freiheit und des Friedens im Kalten Krieg geleistet haben“, schlägt Oberbürgermeister Marc Buchholz am Freitag den historischen Bogen vom Ost-West-Konflikt zur heutigen Konfrontation mit Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine, der ganz Europa in Mitleidenschaft zieht.
Diesem Gedankengang folgt auch der Botschafter Maltas in Deutschland, Giovanni Xuereb, als er mit dem „Lord Mayor“ Buchholz am Alten Wachhaus der Wrexham Baracks, das heute von der Arbeiterwohlfahrt als Kinder- und Jugendzentrum genutzt wird, eine Gedenktafel für die Soldaten der Royal Malta Artillery enthüllt.
Im Alten Wachhaus ‚nächtigten‘ alle, die über den Durst getrunken hatten
Der Botschafter erinnert daran, dass sich Malta vor 60 Jahren für unabhängig erklärt habe, seine Außen- und Verteidigungspolitik aber noch bis 1970 von der britischen Regierung und ihrem Generalgouverneur geführt worden sei. Und er betont, dass Malta seit 2004 Mitglied der Europäischen Union, aber als militärisch neutrales Land, aber kein Mitglied der Nato sei.
„Ich wusste, dass hier britische Soldaten stationiert waren. Aber das hier auch Malteser stationiert waren, ist mir neu“, sagt die Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt, Michaela Rosenbaum. Gerne lässt sie sich von John Victor Urry im Alten Wachhaus den Platz zeigen, an dem seine Regimentskameraden, die über den Durst getrunken hatten, in einer kleinen Zelle ihren Rausch ausschlafen mussten.
Flucht vor alter Sexualmoral: „In Mülheim fühlte ich mich wie ein Vogel“
Interessiert hört Rosenbaum John Victor Urrys Lebensgeschichte, der von seiner Tochter Alexandra und von seinem Großcousin Robin zum Festakt ins Rathaus begleitet wird. Er war 22 Jahre jung, als er mit seinen Regimentskameraden von Dortmund nach Mülheim verlegt wurde. „Damals war es sehr schwierig, auf Malta Arbeit zu finden und Geld zu verdienen. Und hier fand ich nicht nur einen Job und ein Einkommen, mit dem ich auch meine Familie auf Malta unterstützen konnte, sondern auf einer Bank an der Ruhr fand ich auch eine deutsche Freundin, Marlies Wolfgarten, die ich 1975 geheiratet habe“, erzählt John mit einem verschmitzten Lächeln, „warum ich mich in Mülheim wie ein Vogel fühlte, dessen Käfigtür geöffnet worden war und der nun frei herumfliegen konnte.“
Auf Malta, so erinnert er sich, habe die katholische Kirche vor 60 Jahren noch viel Macht gehabt, was zu einer strengen Sexualmoral geführt habe, „Papst Paul VI., you know!“ John erinnert sich, dass er als Junge auf Malta „nur dann mit einem Mädchen spazieren gehen durfte, wenn hinter uns ihre und vor uns meine Eltern gingen.“
Manhattan, Dandy Club und King‘s Club - die heißen Tanzbars der Mülheimer Barracks
Kein Wunder also, dass der junge Malteser im Mülheim der Swinging Sixties mit seiner Marlies nicht nur in den beiden Tanzbars der Wrexham Baracks die Leichtigkeit des Seins genoss. So kann er Joachims Specks Recherchen nur bestätigen. „Die meisten Jungs fühlten sich hier sauwohl!“ Kein Wunder, dass John Victor Urry nach dem Ende seiner dreijährigen Dienstzeit 1965 in Mülheim geblieben und unter anderem in der hiesigen Brotfabrik Oesterwind seinen Lebensunterhalt verdient hat.
Sein Geld gab er jetzt auf Malta nur noch als Heimattourist und als Unterstützer seiner dort lebenden Familienangehörigen aus. Joachim Speck, der seine Geschichte vom Mini-Malta in Mülheim nicht nur am Freitag im Ratssaal vorgetragen, sondern auch im Mülheimer Jahrbuch 2024 und auf der Internetseite des Geschichtsvereins aufgeschrieben hat, hat neben den Tanzbars der Wrexham-Baracks auch „die heute leider nicht mehr existierenden Clubs Manhattan, Dandy Club und King*s Club als Hot Spots des Mini-Maltas in Mülheim ausgemacht.
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