Mülheim. Mülheim 1899 - Die Industrialisierung läuft auf Hochtouren, sorgt aber auch für Wohnungsnot. Auf welche Dinge die Mülheimer stolz waren.
Mülheim vor 125 Jahren. Wir schreiben das Jahr 1899. Die Stadt an der Ruhr ist mit ihren Einwohnern offiziell noch keine Großstadt. Doch die Bevölkerung ist im Zuge der inzwischen auf Hochtouren laufenden Industrialisierung in den vergangenen Jahren stark angestiegen. In der Stadtgemeinde Mülheim leben damals 38.000 Menschen, in der Landbürgermeisterei Broich 20.000 Menschen, in der Landbürgermeisterei Styrum 27.000 und in der Landbürgermeisterei Heißen 11.000 Menschen.
An der Spitze der Stadt Mülheim, die im März 1899 zur Garnisonsstadt wird, steht jetzt ein vom Rat der Stadt gewählter Oberbürgermeister. Diesen Titel hat die preußische Regierung Karl von Bock vier Jahre zuvor zugestanden. Mülheims Verwaltungschef, nach dem heute eine Straße in der Stadtmitte benannt ist, steht mit seinen 59 Jahren auf dem Höhepunkt seiner kommunalpolitischen Karriere.
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Mülheim jetzt Garnisonsstadt: Bürger feiern dies als Coup
Dass der ehemalige Offizier dafür gesorgt hat, dass die Soldaten des Infanterieregimentes 159 in eine neue Kaserne an der Kaiserstraße einziehen können und Mülheim für die nächsten 20 Jahre zur Garnisonsstadt werden wird, wird von der Bürgerschaft als Coup gefeiert.
Denn 1899 ist Mülheim Teil des Deutschen Kaiserreiches und des Königreiches Preußen, in dem die Armee nicht nur als staatliches Prestigeobjekt, sondern auch als wirtschaftliche Konjunkturlokomotive gilt. Denn die Soldaten und ihre Familien, die in die Stadt kommen, sind auch Kunden, Auftraggeber und Steuerzahler.
Noch heute erinnern repräsentative Wohnhäuser in Mülheim an die Garnison
Von Bocks Prestigegewinn anno 1899 ist also mit jenem eines heutigen Oberbürgermeisters zu vergleichen, der ein großes Unternehmen mit hoher Investitionskraft und vielen Arbeitsplätzen in die Stadt holen würde. Während die Kaserne der 159er heute Geschichte ist, die mit der Westenergie-Halle und dem Südbad überbaut worden ist, erinnern noch einige repräsentative Häuser an der oberen Kaiserstraße an die Zeit, in denen hier Offiziere der Mülheimer Garnison zu Hause waren.
1899 sind auch die gewerbliche Ruhrschifffahrt und der Hafen an der Ruhr Geschichte. Stattdessen wachsen und gedeihen die Ruhranlagen am Innenstadtufer der Ruhr. Dem seit 20 Jahren aktiven Verschönerungsverein und seinem Vorsitzenden, Karl von Bock, sei Dank.
1899: Stolz sind die Mülheimer auf ihre Post und ihre Straßenbahn
Stolz sind die Mülheimer 1899 auch auf ihre vor zwei Jahren eröffnete Post am Viktoriaplatz und darauf, dass sie seit zwei Jahren mit der elektrischen Straßenbahn durch Teile ihrer Stadt fahren können. Für das Geschäftsjahr 1899 werden insgesamt 641.000 gefahrene Straßenbahnkilometer registriert. Hinzu kommen 6,4 Millionen Briefe, 368.000 Pakete, 159.000 Telegramme und 333.000 Postanweisungen, die im Postamt am Viktoriaplatz bearbeitet worden sind. Das alte Postamt ist heute Heimstätte des Kunstmuseums „Alte Post“.
Industrie und Arbeitsplätze bescheren der Stadt Wohlstand, aber auch soziale Probleme. Nicht alle alten Mülheimer sind von ihren neuen Nachbarn und Kollegen aus Deutschland und seinen Nachbarländern begeistert. Wohnraum ist knapp und teuer. Mieterschutz ist noch ein Fremdwort. Die Hauseigentümer, die sich seit fünf Jahren in einem Verband organisieren, können Mieten nach Belieben erhöhen und Mieter von heute auf morgen vor die Tür setzen.
Rege Bautätigkeit in Mülheim als Reaktion auf die Wohnungsnot
Da passt es gut, dass ein von August Kirchberg initiierter Bau- und Sparverein 1899 (heute: Mülheimer Wohungsbau eG) seine gemeinnützige und genossenschaftliche Bautätigkeit aufnimmt, der im Jahr zuvor aus dem Evangelischen Arbeiter- und Bürgerverein hervorgegangen ist. Die ersten Wohnungsbaustellen der Genossen befinden sich am Werdener Weg, an der Kreuzstraße, an der Dimbeck, an der Heinrich- und an der Kappenstraße.
Mit dem Bau einer Arbeitersiedlung beginnt 1899 auch der von den Industriellen August Thyssen und Hugo Stinnes sowie dem Bankier Leo Hanau gegründete Mülheimer Bergwerksverein. Ihr Bauprojekt ist die Colonie Wiesche, benannt nach der nahen und gleichnamigen Zeche. Wiesche ist 1899 nur eine von sechs Mülheimer Zechen, auf denen insgesamt 3000 Bergleute Kohle zu Tage fördern, darunter 370 „fremdländische Arbeiter“ aus Österreich-Ungarn, Holland, Belgien, Italien und Russland.
Mülheimer Jahresrückblicke
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- Mülheim im Jahr 1899: Auf welche Dinge die Mülheimer stolz waren
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Mülheimer Werkswohnungen sollen Arbeiter auch abhalten, in die Gewerkschaft einzutreten
Der Werkswohnungsbau, dessen Ergebnis wir heute als Siedlung Mausegatt/Kreftenscheer kennen, ist keine selbstlose Tat der Herren Thyssen. Stinnes und Hanau. Sie entspringt ihrem politischen, sozialen und wirtschaftlichen Kalkül. Denn ihre Arbeiter sollen mit einer Werkswohnung an ihren Arbeitsplatz gebunden und davon abgehalten werden, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren.
Das ist 1899 möglich, aber illegal. So müssen Arbeiter, die für ihre Rechte demonstrieren und streiken, damit rechnen, von der Polizei mit Gewalt auseinandergetrieben, verhaftet und von ihren Arbeitgebern entlassen zu werden.
Auch die Mülheimer Zeitung und der Generalanzeiger für Mülheim können 1899 nicht alles schreiben und berichten, was sie wollen. Denn es herrscht Pressezensur. Für Journalisten gilt: „Erst sitzt die Pointe. Dann sitzt der Redakteur.“
Mülheim 1899 - weitere Bilder
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