Mülheim. In Mülheim wird Künstliche Intelligenz mit Ganganalysen gefüttert. Knie- oder Hüftpatienten können jetzt schon von der High-Tech profitieren.
Carsten Kolotzek wagt es. Nur mit Unterhose und geschätzt 40 Sensoren am gesamten Körper ausgestattet, steht er auf dem Laufband und läuft tapfer vor sich hin. Hinter ihm steht Prof. Marcus Jäger, Direktor der Klinik für Orthopädie, Unfall- und Wiederherstellungschirurgie des St.-Marien-Hospitals und erklärt: „Hier kann man sehen, dass die linke Schulter etwas tiefer ist. Das kann den Grund haben, dass er Rechtshänder ist und auf der anderen Seite mehr Muskulatur aufgebaut hat. Es kann aber auch daran liegen, dass Nerven nicht richtig funken.“
Prof. Dr. Jäger sieht nicht bloß einen leicht bekleideten Mann auf dem Laufband. Er sieht Außen- und Innenrotationen von Füßen, er sieht Schwingungsbewegungen der Arme, Hüftrotationen und mehr oder weniger gekippte Becken. „Menschen mit einem Hüfterguss, drehen die Füße beim Laufen deutlich nach außen“, erklärt er. Es ist ein geschulter Blick wie seiner, der Fehlhaltungen, Erkrankungen und Heilungserfolge erkennen kann.
Patienten sollen sich zu Hause selber helfen
Doch der Experte sieht auch ein Problem. „Wir haben eine immer kürzere Verweildauer. Patienten, die früher drei Wochen nach einer Hüft- oder Knie-OP in der Klinik blieben, werden jetzt nach sechs Tagen in die Reha entlassen. Die Reha dauert aber nicht länger. Zu Hause sind die Patienten dann in einer Art Zwischenstadium. Nicht mehr in Reha, aber auch noch nicht arbeitsfähig.“
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Aus dieser Situation heraus ist ein Forschungsprojekt entstanden, das Künstliche Intelligenz in der Medizin und auch im Profisport auf ein ganz neues Level heben könnte. Im Gang- und Bewegungslabor der Universität Duisburg-Essen, untergebracht im St.-Marien-Hospital, werden Computer mit Daten möglichst vieler Probanden gefüttert, die künstliche Hüft- und Knieprothesen eingesetzt bekommen haben oder die kurz vor einer Operation stehen.
Ingenieure arbeiten mit Medizinern zusammen
Das Ziel: Mittels KI sollen Patienten eines Tages zu Hause herausfinden können, ob ihre Heilung optimal verläuft oder ob Behandlungsbedarf besteht. Die Patienten sollen langfristig Kleidung mit eingenähten Sensoren bekommen, die den Heilungsverlauf misst. Gemessen werden dann zum Beispiel die Stabilität im Kniegelenk und die Beckenrotation. Über eine App werden die Daten dann aufbereitet. „Fast alle Siebzigjährigen haben heute ein Smartphone“, sagt Prof. Jäger.
Für dieses ambitionierte Forschungsprojekt haben sich im Ganglabor zwei Disziplinen zusammengetan: die Humanmedizin und die medizinische Ingenieurswissenschaft. Falko Heitzer von der Universität Duisburg-Essen leitet das Labor und räumt ein: „Wir haben fast ein Jahr gebraucht, um die gleiche Sprache zu sprechen.“ Inzwischen gleicht das Labor einem Film-Set.
Der Proband flimmert als Strichmännchen über die Bildschirme
Auf Metalllstangen sind in unterschiedlichen Höhen Hochfrequenz- und Infrarot-Kameras angebracht, die den Bewegungsablauf von Carsten Kolotzek digitalisieren. Im Boden sind Druckplatten verbaut, die verraten, wie viel Kraft er aufwendet. Während er auf dem Laufband in Bewegung bleibt, läuft eine digitale Version von ihm als Strichmännchen über die Bildschirme.
„Ziel ist es, dadurch objektive Daten zu gewinnen“, erklärt Prof. Marcus Jäger und ergänzt: „Wenn zwei verschiedene Ärzte einen Patienten nach seinem Befinden fragen, kommen durchaus zwei verschiedene Ergebnisse dabei heraus, je nachdem, ob man mit einem Lächeln fragt oder mit einem traurigen Blick.“
Schon bereit für die OP? Auch das wird mit Hilfe von KI ermittelt
Ziel der Analyse mittels KI besteht also darin, objektive Erkenntnisse über den Gesundheitszustand des Patienten zu bekommen. Mehr noch: Es soll auch darum gehen, die optimalen Therapien zu finden und im Vorhinein bereits zu erkennen, ob eine OP zwingend ist und ob der Patient beispielsweise zuvor noch Muskelmasse aufbauen sollte, um nach der OP schneller fit zu sein.
Daneben gibt es ein weiteres Feld, in dem die Forschungsergebnisse eine gewichtige Rolle in der Zukunft spielen könnten: der Profisport. „Wir können etwa Aussagen darüber treffen, wann der optimale Zeitpunkt ist, einen Spieler nach einer Operation wieder aufs Spielfeld zu schicken“, sagt Prof. Jäger. Falko Heitzer ergänzt: „Wir haben mit Spielern der Hockey-Nationalmannschaft und mit Handballern zusammengearbeitet. Ein Doktorand wird bald ein Projekt mit den Spielern von Rot-Weiß Essen starten.“
Mülheimer mit Interesse an einer Ganganalyse können sich melden
Sogar zu Real Madrid seien erste Kontakte geknüpft. Gut möglich also, dass das Mülheimer Ganglabor bald schon internationale Aufmerksamkeit bekommt. Vorangetrieben wird das Projekt durch ambitionierte Doktoranden wie Michael Bias, der sich auf Ganganalysen bei Menschen mit Hüft- und Knieendoprothesen spezialisiert hat. Oder durch Masterstudenten wie Mohammad Rasouli, der zwei Messmethoden kombiniert, um die Wahl der effektivsten Physiotherapie zu erleichtern.
Und natürlich auch durch Doktoranden wie Carsten Kolotzek, der sich auf Sprunggelenkfrakturen spezialisiert. Mülheimer, die Hüft- oder Knieendoprothesen tragen oder vor einer OP stehen und Interesse an einer Ganganalyse haben, können einen Termin in der ambulanten Sprechstunde der Klinik für Orthopädie vereinbaren. Dort wird dann zunächst geprüft, ob eine Indikation für eine solche Analyse gegeben ist. Termine unter: www.contilia.de
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