Mülheim. Sie wünschte sich Kinder, eine Familie, ihr alkoholkranker Ex-Partner nicht. Eine Mülheimerin schaffte den Absprung spät. Nun hilft sie anderen.
Es war eine Nacht im Jahr 2010, die das Fass zum Überlaufen brachte und für Helga Unterspann die endgültige Entscheidung: Sie musste es beenden. Musste gehen. Dem vielfachen Rat vertrauter Menschen folgen – ihren langjährigen Partner verlassen.
„Er ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich hab bei den Krankenhäusern angerufen, mir totale Sorgen gemacht. Morgens um neun ist er dann erschienen, grinsend, er roch nach Alkohol und sagte, er habe mit Freunden gefeiert.“ Die Mülheimerin hatte x-mal damit gedroht, die Beziehung zu beenden. Jetzt war es so weit. Die Trennung wurde schlimm. Ohne Unterstützung ihrer Kreuzbund-Gruppe hätte sie es kaum geschafft, sagt Helga Unterspann.
Mülheimerin war lange mit einem alkoholkranken Partner zusammen
Heute gehört die 69-Jährige zum Vorstandsteam des katholischen Selbsthilfeverbandes in Mülheim und leitet einen Gesprächskreis für Angehörige. Über das Leben mit einem alkoholkranken Partner weiß sie viel – aus eigener, leidvoller Erfahrung. Der Mann, den sie damals verließ, starb sechs oder sieben Jahre später, genau kann sie es gar nicht sagen. Sie weiß nur: „Er hat sich totgesoffen. Man hat ihn zuhause gefunden.“
Es war eine Jugendliebe. Als sie sich kennenlernten, sei sie gerade 18 gewesen, ihr Freund 22, berichtet Helga Unterspann. Das war Anfang der Siebzigerjahre. Ihre Lehre als Verkäuferin hatte sie da schon beendet und arbeitete in einem Mülheimer Wäschegeschäft. Nach einigen Jahren zogen sie zusammen. Sie habe sich ein traditionelles Familienleben als Mutter und Hausfrau gewünscht. „Mit 20 heiraten, mit 21 das erste Kind, mein Mann geht arbeiten. Ich wollte heile Welt.“ Es kam anders. Helga Unterspann blieb bis zum Rentenalter berufstätig und auf Minijobbasis darüber hinaus. Sie war nie verheiratet. Ihr Kinderwunsch erfüllte sich nicht. Ihr Partner wollte nicht, „und ich dachte immer, ich krieg den noch rum – so naiv war ich“.
Nach der Arbeit in die Kneipe: „Das war unser Leben“
Das Paar ging regelmäßig gemeinsam in die Kneipe, traf dort Freunde. „Anfangs nur samstags, dann von Freitag bis Sonntag, dann auch nach der Arbeit. Das war unser Leben.“ Sie habe früher selber „nicht reingespuckt“, sagt Helga Unterspann. Wie es ihr gelungen sei, nicht alkoholabhängig zu werden? „Gute Frage.“ Sie kann es nicht sagen, ebenso wenig weiß sie, wann ihr klar wurde, dass ihr Partner ein Trinker ist. Irgendwann sei es gekippt, dann habe er statt Bier nur noch Schnaps getrunken. „Ich habe die Flachmänner überall gefunden.“
Ihr Partner sei immer berufstätig gewesen, sagt Helga Unterspann, auch Auto gefahren. Sie habe sich lange eingeredet, mit dem Trinken sei es halb so schlimm. Doch 1990 habe er sich erstmals einer Entgiftung unterzogen, neun Wochen lang, im Mülheimer St. Marien-Hospital. Es sollte nicht die letzte bleiben. Dass er alkoholabhängig war, habe ihr Ex-Partner dennoch nie eingesehen, sagt Helga Unterspann. Er sei ihr gegenüber jedoch nie aggressiv oder gar gewalttätig geworden.
In der Selbsthilfegruppe nie ein Wort gesagt
An ihren ersten Besuch einer Kreuzbund-Selbsthilfegruppe, als Paar, erinnert sie sich genau, sogar an das Datum: 9. März 1995. Etwa ein Dreivierteljahr lang hätten sie die Gruppe gemeinsam besucht. Er habe bei den Treffen nie ein Wort gesagt, „immer nur auf die Uhr geguckt, wann es endlich vorbei ist“, und letztlich verkündet, er brauche dieses „dumme Gequatsche“ nicht mehr. Er blieb bei seiner Entscheidung und Helga Unterspann blieb in der Gruppe – tatsächlich bis heute.
Sie tat Dinge, die sie im Rückblick als Fehler bezeichnet. Sie habe ihren alkoholkranken Partner „umsorgt wie ein kleines Baby“, nie alleine gelassen, aus Sorge, er würde dann rückfällig. Habe ihn bei der Arbeit entschuldigt, wenn er ausfiel. Die Gruppe habe ihr oft zur Trennung geraten: „Zieh aus, den kriegst du nicht trocken.“ Sie wollte es nicht hören, sagt Helga Unterspann, habe lange gedacht, sie könnte es schaffen. „Ich wollte auf keinen Fall scheitern.“ Bis zu besagter schlafloser Nacht.
Unglücklich nach der Trennung – Therapie half
Die Trennung habe sie konsequent durchgezogen, innerhalb von vier Wochen eine neue Wohnung gefunden. Ausgezogen sei sie in unglücklicher Stimmung, erinnert sich Helga Unterspann: „Ich habe gehofft, dass er reumütig zu mir zurückkommt, weil er alleine nicht klarkommt.“ Sie wurde enttäuscht. Er lernte in kürzester Zeit eine andere Frau kennen, mit der er fünf Jahre zusammen war. Die Kreuzbund-Gruppe und eine professionelle Therapie hätten ihr geholfen, diese schwere Zeit zu überstehen.
Dass sie für ihren ehemaligen Partner auf eine Familie, auf Kinder verzichtet hat, ist Helga Unterspann deutlich bewusst. Früher habe sie dem nachgetrauert, doch es sei nicht mehr zu ändern. Den Zeitpunkt, um ihren Lebenstraum verwirklichen zu können, habe sie verpasst. „Ich hätte mich mit Mitte 20 von ihm trennen müssen, spätestens mit 30.“ Auf einen anderen Schritt scheint sie stolz zu sein: In der Kreuzbund-Gruppe zu bleiben, auch ohne ihn, nennt sie „die beste Entscheidung meines Lebens“.
„Ratschläge sind auch Schläge“
Die gesamte Kreuzbund-Arbeit werde von Ehrenamtlichen getragen, die selbst Erfahrungen mit Sucht haben, erläutert die Mülheimer Vorsitzende Helga Albrecht-Faßbender. Deren Motivation sei: „Dankbarkeit“. Sechs Selbsthilfegruppen des Kreuzbundes gibt es hier in der Stadt, darunter eine nur für Frauen. Dazu eine monatliche Online-Gruppe und den Angehörigen-Gesprächskreis, den Helga Unterspann leitet. Hinzu kommen verschiedene abstinente Freizeitgruppen, offen für alle: Spieletreffs, Radfahren, Badminton.
Die Menschen, die an den Kreuzbund-Gruppen teilnehmen, seien im Alter von Mitte 30 bis über 80, berichtet die Vorsitzende. Die Arbeit verändere sich laufend, wie der Suchtmittelkonsum in der Gesellschaft. Typisch für den Kreuzbund sei allerdings, anderes als etwa bei den Anonymen Alkoholikern, der dialogische Ansatz, der auf Rückmeldungen, Feedback basiere: „In den Gruppen wird sehr viel kommentiert. Das ist manchmal sehr hilfreich.“ Manchmal hart. „Ratschläge sind auch Schläge“, so empfinden es manche. Mit Blick auf betroffene Angehörige sagt Helga Albrecht-Faßbender: Nach ihrer langjährigen Erfahrung müssten sich Paare nicht zwingend trennen, wenn ein Partner suchtkrank ist und weiter konsumiert. „Es kann auch anderes ausgehen und halten.“
Allgemeine Infos zum Kreuzbund, eine Übersicht aller Gruppen und Termine gibt es auf kreuzbund-muelheim.de.
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