Mülheim. Jugendliche greifen zu „Benzos“ und anderen Pillen. Was Mischkonsum anrichten kann, haben die tragischen Fälle fünf junger Mülheimer gezeigt.
Fünf junge Mülheimer sind zwischen Juli 2022 und März 2024 in die traurige Statistik der Drogentoten eingegangen. Anders als in früheren Jahren sind die beiden 17-Jährigen, die beiden 19-Jährigen und zuletzt der 28-Jährige aber nicht an einer Überdosis Heroin oder ähnlichem gestorben. Staatsanwaltschaft und Polizei sprachen von „Mischintoxikation“ als Todesursache, von einem Cocktail verschiedener Substanzen. Genauere Angaben machten die Behörden bewusst nicht. Norbert Kathagen, seit 33 Jahren bei der hiesigen Ginko Stiftung für Prävention, weiß aber, dass Jugendliche in Mülheim immer häufiger zu Benzodiazepinen greifen und parallel dazu oft auch zu Amphetaminen.
Die einen wirken stark beruhigend, die anderen extrem aufputschend. Kathagen und seine Kollegen kritisieren, dass die breite Gesellschaft noch immer nicht ausreichend über die Gefahr dieser und ähnlich verhängnisvoller Kombinationen aufgeklärt ist.
Mülheimer Berater: „Verantwortungsvolle Mediziner geben Benzodiazepine nicht so schnell heraus“
„Die Stoffe wirken sehr unterschiedlich - aber sie können leicht zu einer sehr explosiven Mischung werden“, weiß Ginko-Jugendberaterin Ulrike Weihrauch (55). So können sich die Substanzen gegenseitig verstärken, was schnell zu einer Überdosierung führen kann. Die Wechselwirkungen sind unberechenbar. „Erst pusht man sich vielleicht für eine Party auf“, so Kollege Kathagen (65), greift also zu Amphetaminen, „später möchte man dringend wieder runterkommen“, schmeißt also Benzodiazepine hinterher. Extremes Herzrasen kann Folge der aufputschenden Mittel sein, erklärt Günter Weisgerber (59), ebenfalls Berater bei Ginko. Um das beängstigend wilde Herzklopfen wieder einzufangen, verschreibe man sich quasi selbst das vermeintliche Gegenmittel, betreibe also eine Art Selbstmedikation - leider mit unkalkulierbarem Risiko.
Benzodiazepine sind rezeptpflichtige Medikamente, „die bewirken, dass man sich fühlt wie in Watte gepackt“, so Kathagen. Sie könnten bei Angststörungen gute Dienste leisten, kommen regelmäßig bei Panikattacken zum Einsatz. „Der Besitz und der Konsum sind legal, die Abgabe und das Handeltreiben nicht“, betont Weisgerber. Die Jugendlichen decken sich bei Dealern oder bei Freunden aus der Clique mit den Tabletten ein, kommen aber auch ziemlich einfach via Internet daran - „auch wenn da standardmäßig immer erstmal abgefagt wird, ob man denn schon 18 ist und sich an die Gesetze hält“, so Kathagen. Dass es in Mülheim angeblich einfach sein soll, in Arztpraxen an die Pillen heranzukommen, mag das Trio nicht bestätigen: „Verantwortungsvolle Mediziner geben die nicht so schnell raus. Das Gefahrenpotenzial ist bekannt.“
Etwa jedes dritte Gespräch, das Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Weihrauch, Suchttherapeut Kathagen und Sozialarbeiter Weisgerber in ihrer Beratungsstelle an der Kaiserstraße mit Jugendlichen oder Eltern führen, dreht sich um ein Suchtproblem. Medien-Abhängigkeit spielt eine untergeordnete Rolle, deutlich häufiger geht es um Betäubungsmittel. Nicht um langjährige Drogenkarrieren, die sind eher bei der Drogenberatungsstelle der Stadt angesiedelt, „bei uns geht‘s ums Ausprobieren und vielleicht auch mal ein bisschen darüber hinaus“, so Weihrauch. Bei Ginko maßt man sich deshalb auch nicht an, allumfassend Auskunft über Mülheims Drogenszene geben zu können. Wie die Jugend vor Ort tickt, kann man dennoch einschätzen, unter anderem aus zahllosen Begegnungen bei Präventionsveranstaltungen in den Schulen.
Rapper wie Capital Bra oder T-Low, die von Drogen singen, sind für manche Jugendliche Vorbild
Dass die Serie von Todesfällen seit Sommer 2022 dramatisch ist, steht außer Frage: „Es ist sehr erschreckend, was da passiert ist“, sagt Kathagen. Laut Statistik müsse man zwar mit vereinzelten, drogenbedingten Todesfällen rechnen, doch fünf Tote in gut anderthalb Jahren sei „eine auffallend hohe Zahl“ für eine Stadt der Größe Mülheims.
Dass die jungen Menschen vermehrt nach Substanzen wie Benzodiazepinen greifen, hat laut der Berater sehr unterschiedliche Gründe. Die erlebte Einsamkeit in der Coronazeit, die vielen Ängste in der Pandemie seien sicher mitursächlich. „Aber zum Teil ist es auch einfach Lifestyle“, sagt Weisgerber. Er spricht von Subkultur, jugendlicher Identitätsfindung, sozialen Medien. Rapper wie Capital Bra oder T-Low seien Vorbilder, und deren Songs, in denen Drogen eine zentrale Rolle spielen. Es gebe leider sehr unkritische Jugendliche, „die probieren einfach mal eine Pille aus, ohne lang darüber nachzudenken“, so Weihrauch.
Kathagen ist überzeugt, dass die Gruppe derer, die das als Faszination empfindet und leichtfertig ein Risiko eingeht, in Mülheim nach wie vor eher klein ist. „Trotzdem: Es ist wichtig, genau hinzugucken und aufmerksam zu bleiben. Wir dürfen die Jugendförderung nicht aus den Augen zu verlieren.“ Betroffene Familien bräuchten gute Hilfsangebote und fänden diese auch in Mülheim. Doch das allein könne ein Drogenproblem nicht lösen: „Die Eltern haben manchmal die Erwartung, dass man einmal Klatsch macht und alles ist wieder gut“, sagt Weihrauch. „Auch wenn ich den Wunsch verstehen kann: Man muss die Situation auch selbst in den Blick nehmen. Das können wir niemandem abnehmen.“
„Da kommen zu einem Elternabend am Gymnasium nur eine Handvoll Eltern. Das wundert uns“
Unterrichtsbesuche, Podiumskiskussionen, Lesungen, Elternabende und die klassischen Beratungsgespräche: Ginko versucht einiges, um aufzuklären, Hilfe anzubieten, beizustehen. Manchmal aber sei man schon erstaunt, sagt Weihrauch, wie wenig Resonanz es gibt - trotz der erschreckenden Entwicklung. „Kürzlich bei einem Elternabend an einem Gymnasium kam gerade eine Handvoll Leute.“ Die Geschehnisse der vergangenen anderthalb Jahre haben aber auch viele Menschen wachgerüttelt. Vor allem das Schicksal eines 17-Jährigen, der im Herbst 2022 tot im Skatepark an der Südstraße lag, erschütterte Mülheim. „Der war unglaublich bekannt und seine Geschichte hat die Jugendlichen stark bewegt“, so Weisgerber. „Manche haben sich komplett umorientiert, die Substanzen weggelassen, eine Ausbildung begonnen“, erinnert sich Kathagen.
Mit dem Weglassen ist das allerdings so eine Sache: Benzodiazepine haben ein sehr hohes Suchtpotenzial, erklären die Experten. Schon nach zwei, drei Wochen könnten sie abhängig machen. Riskante Spielchen wie das Auflösen der Tabletten in einer Flasche Sprite sind laut Kathagen brandgefährlich: „So kann man sie überhaupt nicht mehr dosieren.“ Und der Entzug dieser Suchtmittel sei „ziemlich fies und unangenehm“, sagt Weisgerber. Starkes Schwitzen gehöre dazu, Getriebenheit, Unruhe, Schlaflosigkeit. „Das Verlangen nach der Droge ist sehr stark“, weiß Weihrauch, „man kann nur schwer die Finger davon lassen.“
Suchtexperten fordern mehr Geld für die Präventionsarbeit - und empathische Mitmenschen
Damit die Liste der Todesfälle nicht noch länger wird und das Wissen um die Gefahren wächst, setzen Kathagen und seine Kollegen weiter auf Prävention - und auf empathische Mitmenschen. „Wir sehen die Alltagsdramen häufig gar nicht mehr und reagieren immer erst, wenn Dinge wirklich kaputtgegangen sind.“ Das sei auch aus finanzieller Sicht unvernünftig: „Suchterkrankungen kosten viel. Präventionsarbeit ist deutlich günstiger.“ Leider, so bedauern die Experten, werden dafür bislang zu wenig Mittel bereitgestellt. Auch an dieser Stelle müsse die Gesellschaft noch etwas lernen.
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