Mülheim. Zur Rente in die WG gezogen sind 17 Menschen im Mülheimer Süden. Von der Idee bis zum Einzug war es ein langer Weg. Hat es sich gelohnt?

Renate Görke ist 83 Jahre alt und wohnt in einer WG. Das selbstverwaltete Wohnprojekt hat sie mitgegründet. Die Idee kam ihr 2007 bei einem Seminar der Evangelischen Kirche. Ums „Wohnen im Alter“ ging es da. Eine erste Interessengruppe bildete sich, vier Jahre später ein Verein: Leben in Nachbarschaft alternativ, kurz Lina.

Noch einmal sechs Jahre später zog Görke als Erstbezieherin an die Adresse, an der sie bis heute wohnt: die Klosterstraße 60-62 in Saarn, ein Pfarrhaus der Goethezeit, weiß verputzt, mit grauen Klappläden und cremefarbig abgesetzten Haustein-Rahmungen. Zur dunkelgebeizten Eingangspforte steigt man drei Treppen hoch. Görke hat 16 Mitbewohner, die meisten davon wohnen in einem Flügel, den man zusätzlich angebaut hat.

Beim Bäcker in Mülheim-Saarn fahren Sonntagfrüh die Porsches vor

Lina kennen im Quartier mittlerweile alle. Das Haus mit der Riesen-WG ist Veranstaltungsort und Treffpunkt der Nachbarschaft. So ist es eigentlich schon immer gewesen. Bis 1990 wohnten hier die Pfarrer der katholischen Gemeinde. Zur Kirche St. Mariä Himmelfahrt mussten sie nur die Straßenseite wechseln.

Früher suchten hier Mitglieder der Dorfgemeinde Rat beim Pfarrer. Seitdem die WG eingezogen ist, finden hier regelmäßig Lesungen, Konzerte und Feste statt.
Früher suchten hier Mitglieder der Dorfgemeinde Rat beim Pfarrer. Seitdem die WG eingezogen ist, finden hier regelmäßig Lesungen, Konzerte und Feste statt. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Für ein alternatives Wohnprojekt ist die Wahl des Stadtteils ein ungewöhnlicher: Saarn, „die Insel der Seeligen“, wie eine Bewohnerin sagt, ist das Sylt von Mülheim. Beim Bäcker fahren Sonntagfrüh die Porsches vor. „Ach guck, da kommen wieder die Saarner“, denkt sich Jürgen Thiele dann, einer von Görkes jüngeren Mitbewohnern. Er geht zu Fuß. Die Flaniermeile, die passenderweise Düsseldorfer Straße heißt, beginnt quasi bei ihm vor der Haustür.

WG in Mülheim-Saarn: hier ist alles picobello

An Saarn mit seinen vielen erhalten gebliebenen Fachwerkhäusern schätzen er und seine Mitbewohner den lebendigen Dorfcharakter. Ärzte, Apotheken, Cafés und eine Reihe kleiner, inhabergeführte Geschäfte sind fußläufig erreichbar. Gleich gegenüber liegt das um 1200 gegründete Kloster Saarn, das heute als Kulturstätte dient, dahinter, in einer sanften Flussbiegung gelegen, die Saarn-Mendener Ruhraue. Man versteht schnell, warum die Linas unbedingt hier hinwollten.

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Etwas von einer Pfarrstube hat der große Raum, der ihnen jetzt als Gemeinschaftsraum dient, bis heute. Aufgeräumt, spärlich und schlicht eingerichtet ist das Zimmer, das im Erdgeschoss linker Hand vom Flur abzweigt. Das WG-typische Durcheinander von Schuhpaaren und Jacken an der Garderobe, die obligatorische Sperrmüll-Einrichtung, von Plakaten übersäte Wände: Fehlanzeige. Nirgendwo steht gebrauchtes Geschirr; das Fehlen von Aschenbechern lässt Rauchverbot vermuten. Würde man die Stühle an der Wand aufreihen, fände man sich im Wartezimmer einer Privatpraxis wieder. Alles ist picobello.

Mülheimer Senioren-WG: „die gute Mittelschicht“

In die Runde gefragt, welches Milieu hier wohne, sagt Günter Möckel: „Früher hätte man gesagt, die gute Mittelschicht.“ Seine Mitbewohner sind ehemalige Lehrer, Angestellte, Beamte, eine Krankenschwester ist auch dabei. Zwei arbeiten noch. Manche haben aus Studentenzeiten schon WG-Erfahrung, andere nicht. Strickjacke und Birkenstocks trägt aber niemand.

Die WG, als Kommune einst von der 68er-Avantgarde erfunden und gegen gesellschaftliche und rechtliche Widerstände erkämpft, wurde in den Folgejahren vor allem unter westdeutschen Studenten zur beliebten Wohnform. Den Nimbus des Politisch-Progressiven hatte sie da schon verloren. In einer stark überalterten Gesellschaft wird sie nun auch zur Alternative für Ruheständler, die ihren Lebensabend in Gemeinschaft verbringen wollen.

Der Marsch durch die Institutionen ist wohl abgeschlossen

In jüngster Zeit sind mehrere Ratgeber zum Thema erschienen, quer durch die Republik finden Informationsveranstaltungen statt. Wenn Rentner der guten Mittelschicht nun im Dorf Saarn ein alternatives Wohnprojekt gründen, ist das wohl ein Zeichen mehr dafür, dass der Marsch durch die Institutionen endgültig abgeschlossen ist.

Die belebte Düsseldorfer Straße ist die Flaniermeile im „Dorf Saarn“, wie es von vielen auch genannt wird.
Die belebte Düsseldorfer Straße ist die Flaniermeile im „Dorf Saarn“, wie es von vielen auch genannt wird. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Der Altersdurchschnitt im Haus liegt aktuell bei 72 Jahren, das jüngste Mitglied ist 54. Eine Ausnahme; offiziell liegt die Altersuntergrenze bei 55. Man hat sich bei der Gründung bewusst gegen ein Mehrgenerationenhaus entschieden. Es war eine von zahlreichen Entscheidungen, die im Vorfeld getroffen werden mussten. Basisdemokratisch, versteht sich. Deswegen hat es von der ersten Idee bis zur Schlüsselübergabe aber nicht zehn Jahre gedauert.

Alle hatten auch etwas zu verlieren: nichts weniger als ihr angestammtes Zuhause

In Saarn sollte es sein, das war von Anfang an klar. Vielmehr nicht, schildert Görke: „Wie wollen wir überhaupt leben? Man musste erst ein Konzept erstellen.“ Jeder habe seine eigenen Vorstellungen und Wünsche mitgebracht. Auch Ängste mussten durchgesprochen werden. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt schließlich wissen, worauf er sich einlässt. Und alle hatten auch etwas zu verlieren: nichts weniger als ihr angestammtes Zuhause.

Und wie wohnen Sie?

Dieser Artikel ist Teil einer neuen Schwerpunkt-Serie, zu einem der Themen unserer Zeit. Die Frage, wie wir wohnen, war selten von so großer Relevanz wie dieser Tage. Die Wohnungsnot treibt die Menschen um. Die Mieten, besonders in den Großstädten, sind in den letzten Jahren exorbitant gestiegen, ebenso die Grundstückpreise. Seit Jahren wird zu wenig gebaut, vor allem in den unteren Preissegmenten.

Wegen des Krieges in der Ukraine mussten Millionen von Menschen ihr Heimatland verlassen, über eine Million von ihnen fanden Zuflucht in Deutschland. Kommunen versuchen händeringend, immer mehr Menschen unterzubringen. Eine andere Kriegsfolge sind die gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise. Ebenso unerfreulich ist die aktuelle Entwicklung der Bauzinsen. In Folge brach die Bautätigkeit bundesweit ein.

Wer eine bezahlbare Wohnung hat, gibt sie so schnell nicht mehr her. Und macht es sich gemütlich: In Folge der Corona-Pandemie fand ein unverkennbarer Rückzug ins Private statt. Als das öffentliche Leben still stand, brummten nicht nur die Kassen der Bau- und Gartenmärkte. Zimmerpflanzen, Home-Entertainment-Systeme, Trainingsgeräte, Profi-Kaffeemaschinen, Dekoartikel aller Art gingen weg wie warme Semmeln. Die Menschen haben sich eingerichtet in der Krise; immerhin zu Hause soll es schön sein.

Grund genug, sich dem Thema einmal intensiv zu widmen: Könnten Großwohnsiedlungen wie in den 60er- und 70er-Jahren ein Revival erleben? Welche neuen Konzepte gibt es fürs Wohnen im Alter? Wie entsteht Zusammenhalt in der Nachbarschaft? Was sagen Immobilienmakler zur aktuellen Wohnungssituation in Mülheim? Wie ergeht es Familien mit wenig Einkommen in „der Stadt der Millionäre“? Wir begeben uns auf die Suche nach Antworten, von nun an wöchentlich nachzulesen in der neuen Serie: „Und wie wohnen Sie?“

„Ich wusste gar nicht, was mir blüht“, gibt Günter Möckel zu, der später eingezogen ist. „Im positiven Sinne“, ergänzt er dann noch. Einen Gemeinschaftsraum? „Toll, wozu braucht man den?“, sei sein erster Gedanke gewesen. „Im Nachhinein bin ich froh, den für Aktivitäten nutzen zu können.“ Hat einer der Mitbewohner Geburtstag, wird hier zum Beispiel gemeinsam gefrühstückt.

Der Gemeinschaftsgarten hinter dem Haus an der Saarner Klosterstraße. Einen Teil pflegt man in Eigenregie, um den Rest kümmern sich Profis.
Der Gemeinschaftsgarten hinter dem Haus an der Saarner Klosterstraße. Einen Teil pflegt man in Eigenregie, um den Rest kümmern sich Profis. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Die lange Suche nach einem Investor für das Projekt in Mülheim-Saarn

Nach und nach nahm das Projekt Gestalt an. „Das ist schon ein Phänomen, dass die Leute zweimal im Monat Zeit investieren“, sagt Görke rückblickend. Dann ging es an die Suche nach einem Investor. Selbst Eigentümer werden, das wollte man nicht. Nach langer, langer Suche wurde man sich mit der Genossenschaft Mülheimer Wohnungsbau (MWB) einig. „Die MWB war bereit, uns auch an der Planung zu beteiligen“, sagt Görke. Und Partizipation war der Gruppe wichtig. „Das war auch für die MWB Neuland.“ Für die Wohnungsbaugenossenschaft war es das erste Projekt mit Mieterbeteiligung. Ein Kooperationsvertrag wurde abgeschlossen, er läuft bis heute.

Im Haus mit seinen zwei Flügeln sind alle Wohnungen individuell zugeschnitten, altersgerecht und barrierearm. Man sei den Architekten auch schon mal auf die Nerven gegangen, bis schließlich alles wunschgerecht eingezeichnet war. Manche Wand musste weichen. Die kleinste Wohnung hat nun 47, die größte 109 Quadratmeter. Manche werden von Paaren bewohnt. Neben dem Gemeinschaftsraum gibt es eine winzige Teeküche. Gemeinschaftlich genutzt werden außerdem Terrasse und Garten. Was indes niemand geplant hat, sind „die konspirativen Treffen im Keller beim Wäschewaschen“, wie Heike Glass sie nennt.

Renate Görke und Heike Glass auf der Terrasse im Garten. Die Metallstützen tragen einen der vielen Balkone des Hauses.
Renate Görke und Heike Glass auf der Terrasse im Garten. Die Metallstützen tragen einen der vielen Balkone des Hauses. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Im Mülheimer Haus gilt die Regel: „Jeder kann, keiner muss“

Im Haus gelte die Regel: „Jeder kann, keiner muss“, sagt Jürgen Thiele. Heike Glass führte einen Lesekreis ein, Günter Möckel die Computersprechstunde „Bits + Bytes“, die Rittersporn-Gruppe kümmert sich um den Garten. In der Adventszeit wird zusammen gebastelt. Regelmäßig öffnen sich die Türen auch für Besucher. Der Chor, in dem eine Mitbewohnerin singt, gab vor einiger Zeit ein kleines Hauskonzert. Zum Sommerfest kommen die Nachbarn, Lesungen fanden im Haus auch schon statt. Aktiv in das Quartier hineinzuwirken, das sei ihnen immer schon wichtig gewesen, betonen die Bewohner.

Wird einmal ein Zimmer frei, hängen sie einen Zettel ins Fenster. Das reicht. „Dann machen wir so ein Casting“, sagt Jürgen Thiele. Man stellt sich und das Projekt vor, stellt Fragen zur Wohnbiografie. „Schön zu wohnen, wünschen sich alle, aber dass sich dann auch alle einbringen, ist nicht einfach“, sagt Günter Möckel. Die Linas sind gut vernetzt mit anderen Projekten. Möckel weiß deswegen auch von solchen, wo es nach ein paar Jahren nicht mehr so toll läuft. Die Fluktuation im Haus ist indes überschaubar. In den sieben Jahren seit Bestehen gab es zwei Neuzugänge. Es will halt keiner weg aus Saarn.

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