Mülheim. Eine lebendige Nachbarschaft wünschen sich viele. Nur wenige tun auch etwas dafür. Zu Besuch in einer Mülheimer Siedlung, wo jeder jeden kennt.
Auf der Festwiese, im Schatten mächtiger Platanen, herrscht reges Treiben. Klein und Groß packen emsig Transportboxen. Was heute nicht an Mann und Frau gebracht werden konnte, wird in Kofferräume und Bollerwagen verladen. Gerade ging der Kinderflohmarkt zu Ende. Sabrina Rotert ist zufrieden: Um die 30 Stände sind es dieses Jahr gewesen. Auf ihrem Namensschild steht „Orga“; dass sie es trägt, ist eigentlich überflüssig. Die resolut auftretende Frau, Anfang 40, kennen hier sowieso alle. In der Siedlung gehört sie zum festen Kern jener, die sich für etwas engagieren, was im digitalen Zeitalter immer seltener wird: eine lebendige Nachbarschaft.
Die denkmalgeschützte Zechenkolonie Mausegatt-Kreftenscheer, nahe der Essener Stadtgrenze, zwischen B1 und Rumbachtal gelegen, feiert in diesem Jahr ihr 125-jähriges Bestehen. In die rot verklinkerten Häuschen mit den akkurat geschnitten Vorgartenhecken sind zuletzt immer mehr junge Familien eingezogen. „Daran, dass sich alles verjüngt, sieht man, dass die Siedlung auflebt“, sagt Rotert, die das Fest zur Mülheimer Nachbarschaftswoche gemeinsam mit sechs Mitstreitern auf die Beine gestellt hat.
Wie früher spielen Kinder auf der Straße der Mülheimer Mausegattsiedlung
„Das ist eine schöne Gemeinschaft, ich bin echt froh, hier zu wohnen“, sagt sie. Am meisten profitieren davon vielleicht die vielen Kinder in der Siedlung. Die können auch heute noch gemeinsam auf der Straße spielen. „Hier ist nicht so viel Verkehr, da braucht man als Mutter keine Angst zu haben“, sagt Rotert. Zusammenhalt entstand hier einst über den Arbeitsplatz, über Klassenzugehörigkeit. Das ist lange her. „Das Milieu ist bunt gemischt, es sind alle Bildungsniveaus vertreten, vom Akademiker bis zum Arbeiter“, sagt Rotert. Mietverhältnisse sind vielfach in Eigentum übergegangen; in die beengten Heimstätten von Proletariern ist die Mülheimer Mittelschicht eingezogen.
Rotert stammt gebürtig aus Essen-Stoppenberg, 1995 zog sie in die Siedlung. Während die Bierzeltgarnitur auf der Wiese gerade mit Kuchen, Wein und Häppchen eingedeckt wird, erzählt sie von ihrem Großvater, der mit 14 das erste Mal in die Stollen einfuhr. Da habe er dann bis zur Rente Kohle gekloppt. „Hat er nicht gerne drüber gesprochen“, sagt Rotert und zündet sich eine Zigarette an.
Und wie wohnen Sie?
Dieser Artikel ist Teil einer neuen Schwerpunkt-Serie, zu einem der Themen unserer Zeit. Die Frage, wie wir wohnen, war selten von so großer Relevanz wie dieser Tage. Die Wohnungsnot treibt die Menschen um. Die Mieten, besonders in den Großstädten, sind in den letzten Jahren exorbitant gestiegen, ebenso die Grundstückpreise. Seit Jahren wird zu wenig gebaut, vor allem in den unteren Preissegmenten.
Wegen des Krieges in der Ukraine mussten Millionen von Menschen ihr Heimatland verlassen, über eine Million von ihnen fanden Zuflucht in Deutschland. Kommunen versuchen händeringend, immer mehr Menschen unterzubringen. Eine andere Kriegsfolge sind die gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise. Ebenso unerfreulich ist die aktuelle Entwicklung der Bauzinsen. In Folge brach die Bautätigkeit bundesweit ein.
Wer eine bezahlbare Wohnung hat, gibt sie so schnell nicht mehr her. Und macht es sich gemütlich: In Folge der Corona-Pandemie fand ein unverkennbarer Rückzug ins Private statt. Als das öffentliche Leben still stand, brummten nicht nur die Kassen der Bau- und Gartenmärkte. Zimmerpflanzen, Home-Entertainment-Systeme, Trainingsgeräte, Profi-Kaffeemaschinen, Dekoartikel aller Art gingen weg wie warme Semmeln. Die Menschen haben sich eingerichtet in der Krise; immerhin zu Hause soll es schön sein.
Grund genug, sich dem Thema einmal intensiv zu widmen: Könnten Großwohnsiedlungen wie in den 60er- und 70er-Jahren ein Revival erleben? Welche neuen Konzepte gibt es fürs Wohnen im Alter? Wie entsteht Zusammenhalt in der Nachbarschaft? Was sagen Immobilienmakler zur aktuellen Wohnungssituation in Mülheim? Wie ergeht es Familien mit wenig Einkommen in „der Stadt der Millionäre“? Wir begeben uns auf die Suche nach Antworten, von nun an wöchentlich nachzulesen in der neuen Serie: „Und wie wohnen Sie?“
Am Wochenende halten Reisebusse in der Siedlung
In Essen liefen die Fördertürme dann noch bis in die 80er-Jahre hinein. In Mülheim war deutlich früher Schluss; 1952 machte die Zeche Wiesche, 1966 das Bergwerk Rosenblumendelle dicht. Mülheim war damit die erste bergfreie Stadt im Revier. So brach hier auch der Strukturwandel früher an als in den Nachbarstädten. Das nahegelegene Rhein-Ruhr-Zentrum, auf Zechengelände erbaut, war zur Eröffnung 1973 das erste überdachte Einkaufszentrum der Republik. Da wurde auf dem heutigen Centro-Gelände noch 14 Jahre lang Stahl gekocht.
Manches identitätsstiftende Bauensemble fiel dem Aufbruchsgeist der 70er-Jahre zum Opfer. Das Zusammendenken von Industrie und Kultur hat sich erst später durchgesetzt. Die Heißener Kolonie zählt in Mülheim heute zu den wenigen Relikten jener alten Tage, deren Geist nunmehr Gegenstand von Stadtmarketing geworden ist. Reisebusse auf Stadtrundfahrt machen regelmäßig Halt in der Mausegattstraße, berichten die Bewohner. Und die Chefin der Denkmalbehörde kommt regelmäßig persönlich vorbei und kontrolliert, ob hier auch alles beim Alten bleibt.
Mit vier Kindern und vier Hunden auf 110 Quadratmetern
Familien mit Bezug zum Bergbau sind in der Heißener Kolonie selten geworden. Aber es gibt sie noch, die der 34-jährigen Kira Michels zum Beispiel, die in einem der winzigen Zechenhaushälften mit Mann, vier Kindern und vier Tieren lebt.
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Eine Haushaltsgröße ungefähr wie zu Zeiten von Michels Urgroßeltern. Nur dass man da noch enger gewohnt hat, auf ungefähr 70 Quadratmetern, die man sich dann aber eher mit Schweinen im benachbarten Stall statt Hunden im Wohnzimmer geteilt hat. Ein Anbau sorgt im Hause Michels heute für 40 Quadratmeter Extrawohnraum.
Das ist immer noch deutlich weniger als in einem Neubau. „Dafür ist das hier dann auch etwas für den kleinen Geldbeutel“, sagt Michels. Vor allem, wenn man beim Sanieren selbst mitanpacke. Der durchschnittliche Kaufpreis für ein Einfamilienhaus in Mülheim lag nach den letzten Zahlen des Landes im Jahr 2022 bei rund 594.000 Euro. In der Mausegattstraße liegen die Preise deutlich drunter, sagt Michels und nennt einen Betrag, der eher an eine mittelgroße Eigentumswohnung denken lässt.
Michels öffnet die Tür zu einem leerstehenden Haus, das sie demnächst vermieten wird. Dass die Sanierungskosten den Kaufpreis üblicherweise überflügeln, versteht man sofort. Das Haus wurde komplett in seinen Rohzustand zurückversetzt. Auf den ersten Blick muss hier eigentlich alles, wenn nicht neu gemacht, dann überholt werden: vom Fußboden über den Putz, das poröse Gebälk, den Dachstuhl, bis zum Anbau draußen im scheußlich-schönen Look der 60er-Jahre. Und dass die Wände krumm sind und der Holzfußboden einigermaßen hellhörig, damit muss man sowieso leben.
„Man muss man einfach auf die Leute zugehen“
Zurück zum Nachbarschaftsfest. Ein Kind hält Kira Michels auf dem Arm, ein anderes wuselt mit einem der vier Hunde um den Tisch herum. Die anderen sind im Pulk der Nachbarskinder verschwunden. Um einen Mann in weißer Arbeitskutte und Helm samt Lampe auf dem Kopf hat sich ein Halbkreis gebildet. Als Ruhe einkehrt, beginnt er vorzulesen.
„Ich kenne das hier noch aus meiner Kindheit, da bin ich mit zwei, drei Jahren schon beim Fahrradumzug mitgefahren“, erinnert sich Michels. Ihre Urgroßeltern, gebürtige Mülheimer, gehörten zur ersten Siedlergeneration. Heute engagiert sich die 34-Jährige dafür, den Gemeinschaftssinn im Viertel am Leben zu halten. Von ganz allein passiert das nicht. „Es gab auch Zeiten, wo es nicht genug Helfer gab“, sagt Kira Michels. Vor kurzem hat sie den Co-Vorsitz der Siedlergemeinschaft Mausegatt/Kreftenscheer übernommen, der rund 80 Mitglieder angehören.
„Es muss ein, zwei Zugpferde geben“, sagt Michels. Frauen wie Sabrina Rotert, wie die zweite Co-Vorsitzende Jessica Tackenberg oder wie Kira Michels selbst eben, die in ihrer Freizeit nebenher noch Straßenhunde aus Griechenland vermittelt. „Man muss einfach auf die Leute zugehen“, sagt die 34-Jährige. Das funktioniert offenbar ganz gut. Den Anteil jener, die sich ganz aus allem raushalten, schätzt Michels auf zehn bis zwanzig Prozent.
„Das Leben in der Siedlung ist wie in einer riesengroßen WG“
Zuvor hatten Walter Wieja und Marlies Rustemeyer lange Jahre die Geschicke der Siedlergemeinschaft gelenkt. In der kurzen Umbaupause auf der Festwiese sagt Rustemeyer, nach fast zehn Jahren als zweite Vorsitzende sei es Zeit, sich etwas zurückzuziehen. Das Jubiläumsjahr wolle sie aber noch begleiten. Rustemeyer ist vor 13 Jahren in die Siedlung gekommen. Aufgewachsen ist sie in Dortmund-Hörde. „Da, wo jetzt der Phoenix-See ist“, schiebt die Frau im königsblauen Pullover vorsichtshalber noch hinterher. Arbeiterkind, das sie ist, hat Rustemeyer das industriell zerfurchte Antlitz jenes Dortmunder Stadtteils noch gekannt, den jüngere Generationen als zentrumsnahes Naherholungsgebiet zu schätzen gelernt haben. Hörde zählt heute zu den Top-Lagen der Stadt.
Das Gleiche kann man wohl über Mülheim-Heißen sagen. Besonders junge Familien zieht es in den ruhigen und ideal angebundenen Stadtteil, in dem zuletzt vermehrt saniert und neu gebaut wurde. Weiß gestrichene Flachdach-Häuser, wie es sie überall geben könnte.
„Das Leben in der Siedlung“, sagt Marlies Rustemeyer, „ist wie in einer riesengroßen WG.“ Sie selber ist auch in der lokalen Kulturszene aktiv, sie vermittelt Theaterkarten für Bedürftige und organisiert Atelierbesuche: „Ich bin eine, die sich immer engagiert hat, und ich wundere mich dann manchmal, dass andere das nicht haben. Manche brauchen nur so einen kleinen Schubs“, fügt sie dann mit einem Lachen noch an, bevor sie sich verabschiedet. Die Puppenspielerin möchte mit der Vorstellung beginnen. Ihre Person wird verlangt.
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