Mülheim. Der 50-Jährige ist in Mülheim geboren, ging in Italien zur Schule und kehrte in die Geburtsstadt zurück. Sein Wunsch: offiziell Deutscher werden.

Keine Frage - die Biografie ist eine außergewöhnliche. Sergio, der eigentlich anders heißt, kam als Sohn italienischer Einwanderer vor 50 Jahren in Mülheim zur Welt. Seit knapp 20 Jahren führt er ein stadtweit bekanntes Restaurant mit durchaus gehobenem Niveau, lebt mit seiner Frau und den zwei Kindern in seiner Geburtsstadt. Bis dahin gab es aber doch einige Abzweigungen, der Weg des Italieners verlief alles andere als typisch. Der 50-Jährige fühlt sich der Stadt an der Ruhr verbunden, dem Land Deutschland sowieso. Seit sein Vater hier begraben ist, erst recht. So sehr, dass er sagt: „Ich möchte mich einbürgern lassen.“ Welche Hürden das für ihn birgt, konnte der Gastronom zu diesem Zeitpunkt kaum ahnen.

Der Fall von Sergio ist einer von etlichen. Im vergangenen Jahr sind in Mülheim 619 Menschen eingebürgert worden, Tendenz steigend. Jahrelang ging er davon aus, sich nicht einbürgern lassen zu können, ein Anwalt habe ihm Quatsch erzählt. „Mittlerweile habe ich einen anderen Anwalt“, sagt der adrette 50-Jährige, während er im leeren Speiseraum seines Lokals sitzt und an einem Espresso nippt.

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Mülheimer lernt neben Job und Familie - und das heimlich

Aktuell, berichtet Sergio, sei er sehr müde. Die langen Arbeitstage im Restaurant, nicht selten bis 3 Uhr in der Früh, der Alltag rund um Haus und Familie forderten ihn ohnehin - nun aber kommt ein weiterer, gar nicht mal so kleiner Punkt auf seiner To-do-Liste hinzu: Lernen. Er möchte seine Frau, eine Deutsche, mit der Einbürgerung überraschen - auch deshalb möchte er seine Identität nicht öffentlich gemacht wissen. Morgens, bevor es ins Restaurant geht, macht Sergio sich auf den Weg zu Katharina (66), einer Familienfreundin, die ebenfalls anders heißt. Die beiden pauken, erst für den Demokratietest und dann für das B1-Sprachzertifikat.

Dass es beides für Sergio braucht, um eingebürgert zu werden, „hat mich erstaunt“. Er nimmt es hin - so sind sie nun mal, die Regeln, wenn auch zu seinen Ungunsten. Bei Katharina ist es schon eher Unverständnis, das aufkommt. „Wir hatten alle Unterlagen von der Checkliste zusammen“, erinnert sich die 66-Jährige. „Angaben zu Eltern, Ehe, Kindern, Arbeit, Einkünften, Altersvorsorge, Krankenversicherung, Steuern“, rattert Katharina runter, während sie durch den roten Ordner blättert, in dem allerhand Kopien fein säuberlich abgeheftet sind.

Sergio aus Mülheim hat keinen deutschen Schulabschluss

„Auf dem Amt hieß es dann, dass er einen Sprachnachweis über B1-Niveau brauche.“ Sämtlicher Protest verebbt; die Regeln. „Die Sachbearbeiterin sagte: ‚Sie sprechen ja gut Deutsch, dann ist der Test doch kein Problem‘.“ Gewissermaßen mag das stimmen, sagt Sergio, „aber ich habe Respekt davor“. Seine ersten fünfeinhalb Lebensjahre verbrachte der zweifache Vater in Mülheim, „dann wollten meine Eltern, dass ich in Italien zur Schule gehe“. So geschah es bis zum Ende der Schulpflicht. „Da war ich dann 14, und es ging wieder nach Mülheim.“ Eine deutsche Schule hat Sergio nie besucht, außer zum Elternsprechtag seiner Kinder.

Sergio (Name geändert) möchte offiziell das sein, was er auch fühlt: Deutscher.
Sergio (Name geändert) möchte offiziell das sein, was er auch fühlt: Deutscher. © dpa | Fernando Gutierrez-Juarez

Demnach fehlt es ihm an einer der möglichen Voraussetzungen für die Einbürgerung ohne Sprachkurs: einem deutschen Schul- oder Studienabschluss. „Für mich ist das unverständlich“, sagt Katharina. „Der Mann lebt hier seit Jahrzehnten, ist erfolgreicher Geschäftsmann, führt Steuern ab und ist offensichtlich ausgezeichnet integriert. Wieso legt man ihm Steine in den Weg?“ Sergio sieht vor allem den Unterschied zu denjenigen Eingewanderten, die einen Integrationskurs besuchen. „Ich kenne davon einige durch die Gastro. Sie lernen auch Deutsch, aber ihr Test ist viel einfacher“, berichtet er. „Es ist unfair. Ich lebe hier schon so lange, war nie arbeitslos.“

Mülheimer VHS hatte spontan keine freien Kurse mehr

Integrationskurse dauern in der Regel sechs bis acht Monate, am Ende steht das Sprachniveau A2 oder auch B1. Eine Leistung, die Sergio nun selbst nachweisen muss. „An der VHS war kein Platz mehr, lange Wartezeit“, sagt der 50-Jährige. An einer Sprachschule in Essen ist er mittlerweile angemeldet, für 180 Euro darf er am 21. Juli die Sprachprüfung ablegen, die Vorbereitung läuft aus Zeitgründen autodidaktisch. „Er wird das schaffen“, ist Katharina optimistisch. „Ich hoffe“, ist Sergio skeptisch.

„Es ist etwas anderes, gut Deutsch zu sprechen oder ein Hörverstehen, ein Leseverstehen oder eine schriftliche Aufgabe hinzukriegen“, so der Italiener. Von 300 Punkten brauche er 180, um zu bestehen, einen Mindestanteil aus jedem Bereich. „Ich will das richtig gut schaffen.“ Der Demokratietest ist schon abgelegt, das Ergebnis gibt es in zwei bis fünf Monaten.

Mülheimer Behörde arbeitet nach den gesetzlichen Vorgaben

Britta Gerach, Abteilungsleiterin der Einbürgerungsstelle in Mülheim, weist den Vorwurf der Unfairness zurück. Die Gesetzeslage sei eine klare. Die Ausnahmen seien gesetzlich geregelt, und auf wen diese nicht zutreffen, der müsse einen Nachweis erbringen. „Sind die erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend anhand von Zeugnissen oder Zertifikaten nachgewiesen, ist dem Einbürgerungsbewerber ein Sprachtest, ggf. auch ein Sprachkurs zu empfehlen, es sei denn, der Einbürgerungsbewerber verfügt nach der in einem persönlichen Gespräch gewonnenen Überzeugung der Staatsangehörigkeitsbehörde offensichtlich über die geforderten Sprachkenntnisse. In diesen Fällen kann auf einen Sprachtest verzichtet werden“, heißt es in Paragraf 10.1.1.6 des Staatsangehörigkeitsgesetzes.

„Aber“, erwidert Gerach, „meine Sachkunde kann nicht beurteilen, ob das Sprachniveau A2 oder B1 ist. Wir sind hier keine ausgebildeten Sprachwissenschaftler.“ Sachbearbeiterin Alexandra Schereik bearbeitet täglich zahlreiche Anträge wie die von Sergio, beziehungsweise berät zunächst. „Eigentlich kommt es sehr selten vor, dass wir sofort einbürgern können“, so die Beamtin.

Für Sergio steht fest: „Alleine hätte ich das alles gar nicht gemacht, ich hätte die Nerven nicht.“ Er blickt zu Katharina rüber, sie lächelt. „Na, so schnell lassen wir uns aber nicht unterkriegen.“

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