Mülheim. 2020 erlebten die Mülheimer Grünen einen epochalen Höhenflug. Doch kurz vor dem wichtigen Wahljahr 2025 scheinen sie zerstritten wie nie. Warum?
Die Mülheimer Grünen haben zur Kommunalwahl einen Höhenflug erlebt wie kaum eine andere Partei: plötzlich zweitstärkste Fraktion im Rat, Regierungspartei mit der CDU, eine eigene Dezernentin, ein mächtiger Schub bei den Mitgliederzahlen. Enorm ist die Fallhöhe geworden, und der Fall scheint inzwischen unausweichlich, vielleicht auch notwendig, sagen interne Beobachter. Denn der Kreisverband soll zerstritten sein, das Misstrauen unter manchen Mitgliedern groß. Der Parteivorstand sei für eine „toxische Kultur“ verantwortlich, agiere autoritär, betreibe Lagerbildung. So der Vorwurf. Mehrere Rücktritte verzeichnete der Parteivorstand in kurzer Zeit - und nun auch die Fraktion.
Rücktritte können viele Gründe haben, doch (Ex-)Fraktionsmitglied Farina Nagel benennt in einem internen Schreiben ein offenbar seit längerem schwelendes Problem: „Die feindliche Stimmung, das fehlende Vertrauen und die Mittel, die eingesetzt werden, um Machtkämpfe auszutragen, sind Grundlage dafür, dass ich entschieden habe, meine kostbare Lebenszeit anderen Aktivitäten zu widmen.“ Sie mahnt: „Der Feind ist da draußen und nicht in den eigenen Reihen.“
Mülheimer Grüner in Sorge „Vielleicht brauchen wir einen Reinigungsprozess“
Das ziele, laut Grünen „Parteikolleg*innen“, nicht auf die Fraktion, sondern auf die Partei. Denn Nagel hatte schon zum Jahresbeginn einen Abwahlantrag gegen den alten Parteivorstand unterstützt. Selbst will sie sich dazu nicht äußern. Zum nächstmöglichen Zeitpunkt aber will sie den Ratssitz und ihr Mitwirken im Finanz-, Bildungs- und Jugendhilfeausschuss niederlegen.
Ihr Rücktritt war für manche Grünen der berühmte Tropfen zu viel. Lange Zeit hatten sie nur bestürzt auf die internen Zerwürfnisse geschaut und geschwiegen, teils aus Loyalität zur Partei, teils aus Sorge vor negativen Reaktionen. Ist der Riss noch zu überwinden? Es gibt Zweifel: „Vielleicht brauchen wir einen Reinigungsprozess“, mutmaßt ein langjähriges Mitglied. Man sei 2020 zu erfolgsverwöhnt gewesen, vielleicht damals zu schnell gewachsen.
Fehlt die Demut gegenüber dem Wählervotum?
Es fehle gerade den Neuen die Demut und Dankbarkeit gegenüber dem Vertrauensvorschuss, den die Wählerinnen und Wähler ihnen 2020 gegeben hatten. Manchem fehle die politische Reife, „man geht ohne Bremse aufeinander los“, schildert ein erfahrenes Mitglied. Was es nun dringend brauche, sei ein versöhnlicher Umgangston.
Denn der Erfolg habe Begehrlichkeiten geweckt, bestimmte Mitglieder versuchten, auf dem „Ticket der Partei“ groß zu werden. Die Formulierung „Karriere machen“ tauche immer wieder in Gesprächen mit Mitgliedern auf. Einen langjährigen Grünen erinnert das an die einstigen Flügelkämpfe beim Einzug ins Parlament zwischen Fundis und Realos, „nur ging es da noch um Inhalte“.
Zwei Mediationen, mehrere Rücktritte, kaum Entspannung in Sicht
Und heute? Im Zentrum der Kritik steht besonders der alte Vorstand der Partei, der diese Konflikte um Macht und Karriere angetrieben habe, statt zu schlichten, der seine Ziele ohne Beteiligung der grünen Basis verfolgt habe. Zwei Mediationen hatte es bereits gegeben. Und sogar einen kompletten Austausch des Vorstandes: Denn bereits im Frühjahr hatten sieben Parteimitglieder einen Abwahlantrag gegen den damals bestehenden Vorstand gestellt. Unter den Unterzeichnenden auch Farina Nagel und weitere Mitglieder der Fraktion.
Als Auslöser benennen die Unterzeichnerinnen die Rücktritte von Parteivorstandsmitgliedern, ein Misstrauen sowie „seit geraumer Zeit große Spannungen und eine gewisse Dysfunktionalität des Gremiums in der Außendarstellung“. Doch dieser Antrag blieb in der Schublade. Denn zuvor bot der Vorstand von sich aus an, zurückzutreten. Die geforderte Aussprache blieb aus. Und so haben weder die Mediationen noch der Rücktritt den ersehnten Neuanfang bewirkt. Denn die Kritik hält trotz neuem Vorstand an.
Neuer Vorstand bei Mülheimer Grünen und doch weiter Zwist
Dass der neue Parteivorstand die eigenen grünen Europa-Wahlplakate überklebte, weil ihm eine Aussage nicht passte, die im Bund mehrheitlich beschieden wurde, sorgte kürzlich unter Mitgliedern für Kopfschütteln. Mancher hatte das erst für Vandalismus gehalten. Auch dies soll eine Entscheidung des Vorstands ohne Rücksprache mit der Basis gewesen sein: „Unglücklich und unnötig“, sagen manche. „Dann hätte man sie lieber gar nicht aufhängen sollen“, so ein langjähriges Mitglied.
Das weitaus schwerwiegendere Beispiel für die internen Lagerkämpfe: die Frage der Bundestagskandidatur 2025. Derzeit hat Franziska Krumwiede-Steiner das Mandat für die nächsten anderthalb Jahre. Dennoch hat sich der neue Kreisvorstand auf Björn Maue als einzigen Kandidaten für die Bundestagswahl 2025 festgelegt.
Als Grund benennt er, dass Maue schon im vergangenen Jahr vom alten Vorstand als Kandidat benannt worden ist, bevor Krumwiede-Steiner überraschend in den Bundestag nachrückte.
Düpiert der Vorstand die eigene Bundestagskandidatin?
Krumwiede-Steiner habe dagegen im März 2023 gegenüber dem alten Vorstand bekundet, nicht kandidieren zu wollen. Das gehe aus einem Protokoll vom 6. März 2023 hervor.
„Wir mussten uns als neuer Vorstand positionieren. Es ist immer so gewesen, dass der Vorstand ein Votum vergibt“, betont Vorstandsmitglied Christian Strosing ein faires Vorgehen. Man habe nicht einfach das alte Votum für Maue übernommen, sondern eigens einen Katalog mit Bewertungskriterien aufgestellt und daraufhin beide Kandidaten interviewt. In einer geheimen Abstimmung sei das Votum für Maue gefallen. „Einstimmig“, behauptet der Vorstand, denn Maue bediene besonders das wichtige Thema Altschulden und Finanzen - eine Sache des Bundes.
Doch das Votum lege nichts fest, „es entscheidet immer noch die Mitgliederversammlung“, so Strosing und betont: Dort könnten sich sogar weitere „Kandidat*innen“ aufstellen lassen - „das ist ein ganz basisdemokratischer Prozess“. Anschließend werde die Entscheidung über die Aufstellung der Kandidaten noch im Bezirk getroffen.
Für manchen Grünen liest sich die Empfehlung des Vorstands dennoch wie ein Misstrauensvotum gegen die eigene Mülheimer Bundestagsabgeordnete. „Es erschüttert mich, dass es zwei Lager in der Partei gibt. Man schürt einen Konflikt ohne Not“, glaubt ein Mitglied, der Björn Maues Talente damit nicht infrage stellen will. Denn auch Maue habe politische Erfahrungen und gute Kontakte auf Landesebene, war im Landesvorstand der Jungen Grünen.
Der Riss zwischen Lager „Björn“ und Lager „Franzi“
Und so sorgt die Vorstandsempfehlung weiter für Spaltung, die nicht nur auf einem Kampf um Macht, sondern auf tief sitzenden Verfeindungen zwischen einzelnen, aber einflussreichen Mitgliedern im Lager „Björn“ und Lager „Franzi“ beruhen soll. Für die Mitgliederwahl im Juni droht eine harte Kampfabstimmung. Der Vorstand betont, dass solche Kämpfe um Posten durchaus normal seien. Doch wie kommt ein nunmehr öffentlich umstrittener Kandidat oder eine Kandidatin bei den Wählern an?
In einem Schreiben, das der Redaktion vorliegt, mahnt der (ehemalige) gleichberechtigte Vorstandsvorsitzende der Partei, Siegfried Stoltze, gegenüber dem Kreisvorstand und der Gesamtfraktion an, beide Kandidaten - Maue und Krumwiede-Steiner - zur Wahl zu stellen.
In seinem Schreiben schlägt Stoltze vor, das Votum des Kreisvorstandes durch eine außerordentliche Mitgliederversammlung zu „kassieren“ und kündigt an: „Sollte das Votum des Kreisvorstandes an die Medien gelangen, muss der Kreisvorstand mit entsprechenden entgegengesetzten Willensbekundungen rechnen.“ Stoltze ist inzwischen auf den Vorstandsseiten nicht mehr zu finden. Er sei aus „gesundheitlichen Gründen“ zurückgetreten, sagen die ehemaligen Vorstandskollegen. Informierte Kreise aber sagen auch: Die Querelen im Vorstand hätten zu der gesundheitlichen Lage des erfahrenen Grünen (Mitglied seit 1995) erst geführt.
Wie findet die zerstrittene Partei wieder zusammen?
Wie aber soll die zerstrittene Partei zusammenfinden oder akzeptierte Kandidaten für die Kommunalwahl finden, die ebenfalls 2025 ansteht? Und wer hat in einer gespaltenen Partei noch Lust, sich ehrenamtlich zu engagieren?
Im Gespräch mit dem neuen Kreisvorstand zeigt sich dieser betroffen von der Situation, sieht den Auslöser aber nicht bei sich: „Wir sind nicht einmal hundert Tage im Amt“, betont die erste Vorsitzende und erfahrene Mülheimer Grüne Annette Lostermann-de Nil. Die Kritik könne sie nicht nachvollziehen, denn konkrete Vorwürfe kenne der Vorstand nicht, es seien hauptsächlich „emotionale Äußerungen“, ergänzt Strosing.
Man sei aber bereit, mit den Unzufriedenen über Kritik zu reden und wolle auch das Gespräch suchen, signalisiert Lostermann-de Nil und glaubt, dass „wir über unsere Ideale wieder zusammenkommen“. Dafür drängt, angesichts der laufenden EU-Wahl und der anstehenden Bundestags- wie Kommunalwahl 2025 auch die Zeit.
So äußert sich die Fraktion zum Ausscheiden von Farina Nagel
Hat die Spaltung in der Partei nunmehr auch die Fraktion erreicht? Zum Ausscheiden von Farina Nagel äußern sich die Fraktionsvorstände Brigitte Erd und Timo Spors auf Anfrage der Redaktion: „Farina Nagel hat als Stadtverordnete, Mitglied im Fraktionsvorstand und bildungspolitische Sprecherin grüne Politik in Mülheim in den letzten Jahren mitbestimmt. Wir als Fraktionsvorsitzende bedauern ihren Rücktritt daher sehr. Wir befinden uns derzeit in der Ausarbeitung der Nachfolgeregelungen im Rat und in den Gremien und werden hierzu etwas veröffentlichen können, sobald dieser Prozess abgeschlossen ist.
Die Arbeit in der Ratsfraktion nehmen wir als sachorientiert und konstruktiv wahr. Persönliche Probleme zwischen einzelnen Mitgliedern der Ratsfraktion können wir zwar ebenfalls wahrnehmen, diese haben jedoch bislang keinen Einfluss auf die gute Zusammenarbeit innerhalb der Ratsfraktion auf der Sachebene.“
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