Mülheim. Sie werden beleidigt, sogar mit dem Leben bedroht. Mülheimer Lokalpolitiker erzählen, wie persönliche Angriffe ihren Alltag verändert haben.
Es sind Sätze, die selbst erfahrenen Politikern unter die Haut gehen: „Klatscht die Grünen raus“, „dem schlag ich den Schraubenzieher über den Kopf“, „mal schauen, wo der wohnt“. Oder: „Tötet Lauterbach“. Offener Hass ist inzwischen erlebter Alltag auch für Lokalpolitiker geworden - und zwar unabhängig davon, ob sie konservativ oder linksliberal sind. Per E-Mail, in der Straßenbahn, an Infoständen, gesprüht auf den Asphalt. Bis hin zu Drohschreiben mit grauenhaften Hinrichtungsfantasien auf der Schloßstraße reicht der Hass. Die Demokratie nimmt Schaden.
Denn die jüngsten Attacken auf Hauseingänge und Fahrzeuge von kommunalen Politikern der CDU und Grünen sind offenbar nur die Spitze von Taten bisweilen ungeniert agierender Bürger, deren Drohgebärden und Einschüchterungsversuche in aller Öffentlichkeit kaum auf Grenzen stoßen. Und auch ansonsten aus Angst der Betroffenen vor Rachetaten oder aber im Dunkeln der Anonymität selten Konsequenzen befürchten müssen. Mitten in Mülheim.
Situation eskaliert in Mülheimer Straßenbahn
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So traf es jüngst einen Mülheimer Politiker bei einer vermeintlich harmlosen Unternehmung: „Wir wollten die letzte Fahrt der Linie 104 über den Kahlenbergast erleben“, erzählt dieser. An diesem Samstagabend war er mit Freunden unterwegs, mit in der Bahn saß auch eine Gruppe von Erwachsenen zwischen 20 und 40 Jahren – schätzt er. Am Anfang trank die nur Bier und skandierte Schlager.
Doch dann hatte einer den grünen Politiker erkannt: „Mal schauen, wo die aussteigen...“, gab der seinen Freunden zu verstehen und forderte dann: „Hol mal den Schraubenzieher, den schlag ich ihm über den Kopf“. Die Provokationen radikalisierten sich verbal weiter: „Wo sind hier die Gashähne?“ bis hin zum Grölen: „Klatscht die Grünen raus“.
Unerträgliches Schreiben droht mit öffentlicher Hinrichtung
Die Polizei nahm die Gruppe schließlich an der Haltestelle Stadtmitte in Gewahrsam. Eine Strafanzeige gegen den Rädelsführer läuft. Harmlose Häme im Affekt oder im Suff? Es geht weitaus härter: Mit einer „Verurteilung zum Tode“ und öffentlicher Hinrichtung auf der Schloßstraße droht ein Schreiben, das an mehrere Politiker unterschiedlicher Parteien gegangen ist. „Wir saßen gemeinsam in einem Café mitten in der Innenstadt, als wir fast zeitgleich die Mail bekommen haben. Da wird einem schon anders, man schaut sich um und fragt sich: Werden wir jetzt gerade beobachtet ...?“
Gesicherte Erkenntnisse über die Täter, deren Motive und politische Gesinnung oder gar über mögliche Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Ereignissen haben weder die Ermittlungen der Polizei noch des Staatsschutzes gewinnen können.
Doch selbst wenn die Verfasser unbekannt sind und die Chance, dass auf die Worte überhaupt Taten folgen, nur schlecht eingeschätzt werden kann: Die Täter haben längst gewonnen, denn Drohungen wie diese verfehlen ihre Wirkung nicht. Einige Wochen standen die Wohnorte der Betroffenen unter Polizeischutz. Auch vor den Sitzungssälen hat man Security positioniert. Die privaten dauerhaften Konsequenzen aber sind für manchen gezogen. Sie beginnen schon damit, nicht mehr namentlich, sondern anonym über Bedrohungen zu reden, um aus dem Fokus von Hass und Hetze zu kommen.
Aus Angst vor Verfolgung: Kein Lieferdienst mehr an die Privatadresse
Doch es geht bis weit in den persönlichen Alltag hinein: „Ich habe mich aus dem Melderegister streichen lassen“, gesteht ein Betroffener. Damit können Dritte von der Stadt nicht mehr den Namen und die Adresse etwa eines Politikers erhalten. Der Lieferdienst kommt nur noch bis zur Straßenecke und nicht mehr nach Hause, weil man ansonsten die private Adresse angeben müsste. „Zum Glück ist kein Wahljahr. Ich überlege, ob ich bei Info-Ständen dabei bin“, sagt der Kommunalpolitiker. Dabei muss Lokalpolitik wie keine andere ganz nah beim Menschen sein. Doch ist das noch möglich?
Die offiziellen Zahlen müssen zu denken geben, denn die politisch motivierte Kriminalität steigt: von 55.048 Taten im Jahr 2021 auf 58.916 im vergangenen Jahr. Doch vor zehn Jahren – 2013 – lag sie noch bei 31.645. Zum Teil war sie wohl deshalb so niedrig, weil man bei der Zuordnung heute sensibler geworden ist.
Politisch motivierte Kriminalität: die Mülheimer Zahlen
Aber sie steigt nicht überall gleich: Im rechtsextremen Milieu wuchs sie von 2021 auf 2022 um fast sieben Prozent, besonders aber die Gewalttaten – Körperverletzung und Tötungsdelikte – nahmen um 12,28 Prozent zu. Im linksextremen Spektrum gingen sie vergleichsweise um mehr als 30 Prozent zurück, sowohl bei Gewalttaten als auch insgesamt.
414 Fälle im Jahr 2022 kann der Staatsschutz in den drei Städten Mülheim, Essen und Oberhausen benennen. Etwas weniger als noch 2021 (484). 253 Straftaten stammen dabei aus rechtspolitisch motivierten Kreisen, 72 aus dem linkspolitischen Spektrum, 25 aus dem ausländisch motivierten Bereich und zwei aus dem Bereich der religiös-ideologisch motivierten Kriminalität. Die verbleibenden 80 Straftaten konnte der Staatsschutz nicht zuordnen.
Anonymer Hass: Täter kommen viel zu oft davon
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Doch obwohl die erschreckende Eskalation Jahr für Jahr im Bundesinnenministerium verzeichnet wird, können sich die Täter fast sicher sein, aufgeklärt werden ihre perfiden Spiele mit der Angst viel zu selten. Das beobachtet auch Sebastian Fiedler, Mülheimer Bundestagsabgeordneter der SPD und Kriminalbeamter, der sich intensiv mit Rechtsextremismus, Terrorismus und Bekämpfung organisierter Kriminalität beschäftigt hat.
Das Strafmaß für politisch motivierte Kriminalität sei heraufgesetzt und auch die Möglichkeit für Betroffene, ihren Namen im Melderegister mit einer Auskunftssperre zu versehen, sei erleichtert worden. „Das geht aber einher mit den Problemen bei Taten, die sich im Netz abspielen und leider viel zu häufig ungestraft bleiben“, kann der Bundespolitiker aus seinem Bekanntenkreis berichten. Oftmals erhalten Betroffene nur einen Einstellungsbescheid der Polizei. Ermittlung beendet.
„Das trägt natürlich nicht dazu bei, dass denjenigen, die Hassbotschaften verbreiten, ein Stoppschild vor die Nase gesetzt wird.“ Auch im Mülheimer Fall der Sachbeschädigung an Eingängen und Fahrzeugen von Lokalpolitikern verliefen die Ermittlungen bisher im Sande. Sind Staatsschutz und Polizei hilflos gegenüber solcher Bedrohung?
Fiedler über Hass auf Politiker: „Das ist ein demokratiebedrohliches Phänomen“
Für Fiedler ist das eine Frage der eingesetzten Ressourcen bei Polizei und einer auf solche Fälle spezialisierten Justiz, sprich Staatsanwälte. „Das Wichtigste ist, die Entdeckungswahrscheinlichkeit zu steigern.“ Zweitwichtigster Schritt sei es, wirksame Sanktionen zu verhängen. Beides würde Täter nicht nur abschrecken, sondern vor allem Wiederholungen verhindern – das wisse man aus der Stalking-Forschung.
„Hilflos würde ich deshalb grundsätzlich nicht sagen. Es müsste vielmehr begriffen werden, dass das ein demokratiebedrohliches Phänomen ist. Es ist eines der größten Probleme, die wir im Augenblick haben, weil es dazu führt, dass Lokalpolitikerinnen und -politiker sich im Zweifel nicht mehr engagieren, weil sie auch ihre Familien in bedrohliche Situationen bringen könnten.“
Fiedler sieht AfD in Verantwortung: „Das Schüren von Angst gehört zu ihrem Programm“
Die möglichen Folgen: Diejenigen, die sich für die Demokratie engagieren, nehmen ab. Rechtsextreme gewinnen noch mehr Oberhand. In der Verantwortung sieht der auf Terror und Rechtsextremismus spezialisierte Kriminalbeamte vornehmlich die AfD: „Man muss sie klar benennen: Es sind Extremisten. Das Schüren von Angst gehört zu ihrem Programm, ohne das funktioniert ihr Erfolgsmodell nicht – das können Sie anhand der aktuell hohen Zustimmungswerte erkennen.“
Welchen Anlass bieten die anderen Parteien? „Selbstkritisch muss man auch sagen: Wir müssen Ängste der Leute ernst nehmen. Es ist ja völlig normal, dass sich Leute fürchten, wenn auf der Welt etwa Kriege entstehen. Gerade demokratische Parteien müssen dafür Lösungen anbieten. Es liegt in unserer Verantwortung, zu erklären, was wir machen werden. Da muss ich fraglos sagen: Darin müssen wir erheblich besser werden, die fürchterlichen Zankereien in der Ampel müssen wir beenden.“