Kreis Wesel. Der langjährige Landrat des Kreises Wesel erklärt im Interview, ob sich die Gebietsreform gelohnt hat.
Vor fünfzig Jahren, am 1. Januar 1975, begann am Niederrhein eine großangelegte Gebietsreform. Aus den Kreisen Dinslaken, Moers und Rees wurde der Kreis Wesel. Viele kleine Gemeinden wurden zu großen Kommunen zusammengefasst. Dr. Ansgar Müller war von 1996 bis 2004 Kreisdirektor des Kreises Wesel, danach bis 2020 dessen Landrat. Wie kaum jemand sonst kann er beurteilen, ob sich diese Gebietsreform gelohnt hat – für die Menschen im Kreis, aber auch aus Sicht der Verwaltung.
Der Kreis Wesel ist heute etwa doppelt so groß wie der einstige Kreis Rees, dessen Kreisstadt Wesel war. Ihm wurden große Teile der Kreise Dinslaken und Moers zugeschlagen, nicht zuletzt, um die Raumplanung zu vereinfachen. Hat sich das bewahrheitet?
Den Kommunen sollte es durch mehr Größe ermöglicht werden, ihre vielfältigen Aufgaben mit dem dazu qualifizierten Personal wahrzunehmen - dabei standen interessanterweise bei der Frage, wie groß eine Gemeinde mindestens sein sollte, die schulischen Aufgaben der Kommunen im Vordergrund. Das genannte Ziel wurde zweifellos erreicht: Die Kommunen im Kreis Wesel sind heute stark genug für ihr Aufgabenspektrum.
Vergrößerte Verwaltungseinheiten führen zu weniger Transparenz und weniger Bürgernähe, sagen die einen. Andere befürworten sie, weil man gemeinsam stärker sei.
Bürgernähe geht bei jeder Größenordnung: Auch die Verwaltung einer Großstadt kann bürgernah handeln - sie muss es nur wollen. Eine hohe Qualität kommunaler Dienstleistungen und ein guter Bürgerservice sind aber nur ab einer gewissen Größe bei den Verwaltungseinheiten wirtschaftlich möglich.
Moers und Dinslaken haben keine Kreisverwaltungen mehr, auch etliche Rathäuser wurden 1975 geschlossen. Hat sich das unter dem Strich finanziell gelohnt?
Zweifellos hat die Bildung einer Kreisverwaltung anstelle von dreien zu einer wirtschaftlicheren Struktur geführt und damit Geld gespart. Außerdem erhöhte dies die Kraft, wichtige Vorhaben umzusetzen. Dazu gehören aus meiner Sicht die für Landwirtschaft und Naturschutz wichtigen Landschaftspläne ebenso wie der Zusammenschluss der drei Rheinhäfen in Wesel und Voerde zur erfolgreichen Hafengesellschaft DeltaPort.
Wie haben Sie über die Jahre die Einstellung der Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen? Es hat teilweise große Unzufriedenheit und auch Klagen gegen die Gebietsreform gegeben, die meisten wurden abgewiesen. Sind die Menschen inzwischen in den neuen Kreis- und Gemeindegrenzen angekommen?
Die Kommunen sind damals vor allem nach praktischen - man kann auch sagen: technokratischen - Gesichtspunkten gebildet worden; das Ziel, dass sich die Menschen mit ihrer (neuen) Kommune auch identifizieren können, stand dahinter zurück. Mit der Zeit ist gleichwohl diese Identifikation gewachsen. Trotzdem ist nach wie vor das Zugehörigkeitsgefühl zum unmittelbaren Wohnort - dem Bereich, den man sich zu Fuß erschließt - größer als zur gesamten Stadt oder Gemeinde. So sagen die Menschen aus Repelen, wenn sie ins Stadtzentrum fahren, meist auch heute noch, dass es „nach Moers“ geht und die Leute aus Marienbaum erledigen etwas „in Xanten“. Für mich als Landrat war es weniger ein Ziel, dass die Menschen sich mit dem Kreis Wesel identifizieren, als dass sie neben der Zugehörigkeit zu ihrem Wohnort, was nicht unbedingt die politische Gemeinde sein muss, sich als Niederrheinerin oder Niederrheiner (wohl-)fühlen. Und dieses Regionalbewusstsein ist in den letzten Jahrzehnten deutlich gewachsen.
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Ist die geographische Trennung durch den Rhein überwunden worden?
Ein großer Strom bedeutet geographisch und für das regionale Lebensgefühl eine durchgängige Teilung - wir Menschen sind nun einmal Landlebewesen. Die Brücken und Fähren sind demgegenüber punktuelle Verbindungen der beiden Seiten und das bleibt auch so. Mein Ansatz, um ein Interesse an der jeweils anderen Rheinseite zu wecken, war das Bestreben, die Niederrhein-Identität zu stärken.
Moers und Dinslaken kehren verstärkt zu eigenen Autokennzeichen zurück. Ist das ein Zeichen dafür, dass die Menschen nie im Kreis Wesel heimisch geworden sind?
Es zeigt zum einen, dass sich die Menschen mit ihrem Lebensumfeld identifizieren und zum anderen ist es Ergebnis des Wunsches nach individuellen Kennzeichen: Bei MO - dem deutschlandweit am häufigsten ausgegebenen Altkennzeichen - sind viel mehr Kombinationen verfügbar als bei WES, vor allem die eigenen Initialen und das Geburtsjahr sind beliebt, was bei WES gar nicht geht. So wundert es nicht, dass schon sehr schnell mehr als 1.000 Autos mit MO fuhren, deren Standort die Stadt Wesel war. Ich habe auch MO.
War Wesel die richtige Wahl für den Sitz der Kreisverwaltung? In Moers hat man sich lange darüber geärgert, dass nicht die größte Stadt den Verwaltungssitz bekam.
Für mich ein klares Ja. Die Startaufstellung für den jungen Kreis Wesel war, was die Ausgewogenheit angeht, nahezu ideal: Die meisten Kreistagsabgeordneten kamen aus dem Altkreis Moers, Verwaltungschef wurde mit Horst Griese der tatkräftige Dinslakener Oberkreisdirektor und mit Wesel aus dem Altkreis Rees wurde die drittgrößte Stadt des neuen Kreises Kreisstadt. Letzteres war zudem ein deutliches Zeichen für eine ausgewogene Kreispolitik zwischen Stadt und Land. Heute hat sich Wesel, von wo aus auch die äußeren Teile des Kreisgebietes gleich gut oder - je nach Verkehrslage - gleich schlecht erreichbar sind, als Kreisstadt etabliert und die Weseler Niederrhein-Brücke ist längst zum Wahrzeichen für den ganzen Kreis geworden.
Wenn Sie die Gebietsreform verbessern könnten – was würden Sie ändern?
Größere Verwaltungseinheiten zu schaffen, war sicher notwendig und richtig. Ich hätte es aber besser gefunden, wenn trotzdem kleine Gemeinden ihre Selbstständigkeit mit einem eigenen kleinen Gemeinderat behalten hätten. Eine hauptamtliche Verwaltung würde dann für mehrere Gemeinden agieren - so wie etwa in Schleswig-Holstein. So eine Struktur steigert die Bereitschaft der Menschen, sich kommunalpolitisch zu engagieren, weil es um das unmittelbare Lebensumfeld geht und ermöglicht es mehr Leuten aus der Mitte der Gesellschaft, neben der Erwerbs- und Familienarbeit ein Ratsmandat auszuüben, als in den großen Räten mit ihren vielen Ausschüssen und langen Sitzungen. Außerdem ist in einer kleinen Gemeinde der Draht zwischen Ratsmitgliedern und der Bevölkerung sehr kurz. Dies jetzt - nach fünfzig Jahren - umzusetzen, dürfte aber unmöglich sein.