Kreis Wesel. 1975 trat die Gebietsreform in Kraft und brachte den Kreis Wesel hervor. Manche Kommune fremdelte damit. Journalistin Eva Karnofsky erinnert sich.
Als ich am 1. Januar 1975 aufwachte, lebte ich zwar immer noch in Hamminkeln, aber nicht mehr im Kreis Rees. Denn den gab es ab sofort nicht mehr. Rees war ohnehin schon seit 1842 nicht mehr Kreisstadt, weil ein Landrat namens von Bernuth dem König von Preußen die Erlaubnis abgetrotzt hatte, das Landratsamt von Rees nach Wesel zu verlegen und nur den Namen Kreis Rees zu behalten. Der Grund: von Bernuth schienen die Weseler Bildungseinrichtungen für seine zahlreichen Kinder besser geeignet als die Reeser Schulen. Mein Geburtsort Wesel blieb mir weiterhin als Kreisstadt erhalten, aber künftig sollte der Kreis auch deren Namen tragen.
Gebietsreform 1975: So ist der Kreis Wesel entstanden
Dieser neue Kreis Wesel mit inzwischen knapp 468.000 Einwohnern und einer Gesamtfläche von 1042 Quadratkilometern sollte künftig ein Bindeglied bilden zwischen der Rhein-Ruhr-Region und den Niederlanden, so die Idee der Politik. Der Rhein war nicht länger Kreisgrenze – bewusst hatte sich der Landtag für einen Fluß-übergreifenden Kreis entschieden – der sollte nun die koordinierte Nutzung der Rheinschiene ermöglichen. Die Grenzen wurden am Reißbrett gezogen, teilweise über die Köpfe der Lokalpolitik und erst recht der Bürgerinnen und Bürger hinweg. Der Kreis Wesel hat mit ein bisschen Fantasie seitdem die Form eines auf dem Kopf stehenden Eis, dessen Ränder wild gezackt sind. Ungefähr in der Mitte liegt Wesel.
Innerhalb der neuen Kreisgrenzen lagen nun Orte wie Neukirchen-Vluyn, Kamp-Lintfort oder Alpen, über die ich nur vage Kenntnis hatte. Deren Bürgerinnen und Bürger wussten wahrscheinlich ebenso wenig über Hamminkeln.
„Moers – das war ganz weit weg“
Der Rhein war eine Grenze in den Köpfen. „Moers – das war ganz weit weg“, erinnert sich auch Kreistagsmitglied Udo Bovenkerk, wie ich aus Hamminkeln. Inzwischen geht er mit seiner Familie gern dort einkaufen. Eine meiner Mitschülerinnen am Städtischen Mädchengymnasium, dem heutigen Andreas-Vesalius-Gymnasium, stammte aus Büderich, bis zur Gebietsreform eine selbständige Gemeinde im Kreis Moers. In meinem Kopf war sogar das holländische Dinxperlo näher, denn es lag auf „unserer“ Rheinseite. Und nun, mit der Gebietsreform, wurde dieses Büderich Stadtteil von Wesel. Der Kreis Moers war wie „mein“ Kreis Rees über Nacht Geschichte.
Die Menschen in Moers fühlten sich dem Ruhrgebiet zugehörig und waren gar nicht glücklich darüber, dass künftig das kleinere, in ihren Augen verschlafen-ländliche Wesel ihre Kreisstadt sein sollte. Vermutlich war es Moers´ Randlage im neuen Kreisgebilde, die den Landtag dazu brachte, Wesel als Kreisstadt beizubehalten. So mancher Moerser mag die Gebietsreform bis heute als Diktatur vom Reißbrett empfinden, während die Weseler sich eher auf die Seite derer schlagen dürften, die sie als Jahrhundertreform ansehen.
Wie einst Landrat von Bernuth den König um den Verwaltungssitz anzugehen, war dem Moerser Landrat 1975 nicht vergönnt. Bis auf Rheurdt und ein Stückchen von Vennikel, die dem Kreis Kleve zugeschlagen wurden, landete sein gesamter Kreis im Kreis Wesel. Das Örtchen Vennikel wurde gar gedrittelt: je ein weiteres Drittel wurde Duisburg und Krefeld zugeschlagen. Moers wurde zur größten deutschen Stadt, die weder Kreisstadt noch kreisfreie Stadt ist.
Das Zuckerbrot für Moers: Der erste Landrat des Kreises Wesel, Werner Röhrich, stammte aus Rheinkamp, das zuvor dem Kreis Moers angehört hatte. Direkt von der Bürgerschaft gewählt wird der Landrat erst seit 1999. Seitdem ist er offizieller Repräsentant und Verwaltungschef in einer Person. Röhrich war noch ehrenamtlich tätig und vom Kreistag gewählt worden. Hauptamtlicher Verwaltungschef war der Oberkreisdirektor und diesen Posten bekleidete nach der Gebietsreform mit Horst Griese ein Dinslakener.
Denn auch der Kreis Dinslaken ging im neuen Kreis Wesel auf. Der sparte damit gleich zwei Kreisverwaltungen ein. Wenn bisher die Lippe die Kreise Rees und Dinslaken trennte, breitete sich der Kreis Wesel jetzt bis an die Stadtgrenzen von Duisburg und Oberhausen aus. Die beiden kreisfreien Städte verleibten sich im Zuge der Gebietsreform ihrerseits Walsum und Homberg sowie Sterkrade und Holten ein.
Der Hintergrund
Am 9. Juli 1974 hat der Landtag in Düsseldorf ein Gesetz verabschiedet, dessen Umsetzung für die Bürgerinnen und Bürger am Niederrhein weitreichende Änderungen brachte: das „Gesetz zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Niederrhein“, kurz Niederrhein-Gesetz. Es trat vor fünfzig Jahren, am 1. Januar 1975, in Kraft und war Teil einer großangelegten Gebietsreform, die die Raumplanung in ganz Nordrhein-Westfalen vereinfachen und obendrein Geld sparen sollte – durch die Verringerung der bis dahin 57 Landkreise auf 31 und der 38 kreisfreien Städte auf 23. Aus 2324 Städten und Gemeinden in NRW wurden 396 Kommunen.
Für die Bürgerinnen und Bürger der Region folgte daraus, dass sie für einige Verwaltungsangelegenheiten nun eine neue Kreisstadt ansteuern mussten - Wesel. Allerdings wurden in Moers und Dinslaken beispielsweise KFZ-Zulassungsstellen eingerichtet, damit die Gebietsreform nicht gar zu unbequem wurde.
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Mit dem neuen, nun erheblich größeren Kreis mögen einige immer noch fremdeln. Kreistagsmitglied Udo Bovenkerk hält bis heute kleinere Verwaltungseinheiten für besser geeignet, wenn es um Bürgernähe geht: „Da ist der persönliche Kontakt eher möglich, man kann Anliegen besser erklären,“ meint er. Holger Schlierf dagegen, langjähriger Bürgermeister von Hamminkeln, ist ein Anhänger größerer Verwaltungseinheiten, denn „gemeinsam kann man mehr erreichen.“
Wenn man mich heute fragt, aus welchem Kreis ich stamme, will ich immer noch spontan Rees antworten und verbessere mich dann schnell.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version stand, dass Hamborn im Zuge der Gebietsreform der Stadt Duisburg zugeschlagen worden ist. Das ist aber nicht richtig. Tatsächlich ist es Homberg gewesen. Hamborn gehört bereits seit 1929 zu Duisburg. Wir haben den Fehler korrigiert.