Kreis Wesel. Nicht alle im Kreis Wesel waren von der Gebietsreform begeistert. Vor allem die Dingdener ärgerten sich, dass sie Hamminkeln zugeschlagen wurden.

Der ehemaligen NRW-Landwirtschafts- und Umweltministerin Bärbel Höhn wird der Satz nachgesagt, Dingden sei der Bindestrich zwischen Nordrhein und Westfalen. Die knapp 6000 Menschen dort hätten, als man sie vor nunmehr fünfzig Jahren in Hamminkeln zwangsintegrierte, gern darauf verzichtet. Ihre Heimat war Westfalen.

„Ich bin im westfälischen Bocholt zur Schule gegangen, da hatte ich meine Freundinnen und da gingen wir zum Arzt“, erinnert sich Agnes Küpper. Musste man zum Amt, ging man ins Dingdener Rathaus oder fuhr nach Borken, in die Kreisverwaltung. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich vor 1975 jemals in Hamminkeln war“, sagt Küpper, deren Familie seit mehr als 250 Jahren einen Gasthof im Ortskern betreibt und die sich als Vorsitzende des Vereins für Dorfentwicklung um die Gestaltung des Dingdener Dorfbildes kümmert.

Gefrotzelt wird immer noch gern

Was sie am meisten ärgerte: Sie musste nun das Nummernschild an ihrem Käfer ändern, BOR gegen WES tauschen. Ihr Mann habe sich sogar sehr lange geweigert, Hamminkeln als Adresse anzugeben. „Er hat H.-Dingden geschrieben.“ Nicht nur Hermann Küpper war unzufrieden damit, dass der Ort nun nicht mehr Dingden hieß. Irgendwann hat ein Witzbold sogar das Ortsschild „Dingden  - Stadt Hamminkeln“ geändert: Über Nacht stand da „Dingden statt Hamminkeln“. Vielleicht hätte man sich eher mit der Zusammenlegung abgefunden, wenn die neue Kommune Dingden geheißen hätte. „Damals war sogar der Name Isseltal im Gespräch, um niemanden zu benachteiligen,“ weiß Kreistagsabgeordneter Udo Bovenkerk aus den Erzählungen seines Vaters Adolf Bovenkerk, der bis zur Gebietsreform Hamminkelner Bürgermeister war. Der Rat entschied sich dann aber für Hamminkeln.

Im Zuge der Gebietsreform 1975 wurde die Gemeinde Dingden Hamminkeln zugeschlagen.
Im Zuge der Gebietsreform 1975 wurde die Gemeinde Dingden Hamminkeln zugeschlagen.

Die Dingdener Bevölkerung war damals zu rund neunzig Prozent katholisch, das sechs Kilometer entfernte Hamminkeln dagegen war mehrheitlich evangelisch. Man fremdelte auch deswegen. Obendrein fühlte man sich sprachlich im Westfälischen zuhause: Agnes Küpper kann sofort am Tonfall hören, ob jemand aus dem westfälischen oder dem niederrheinischen Teil von Hamminkeln stammt.

Aus Westfalen herausgeschnitten

Am 1. Januar 1975 trat die Gebietsreform in Kraft. Dabei gingen die Kreise Moers und Dinslaken im Kreis Wesel auf. Was aber für die Bürgerinnen und Bürger ganz besonders spürbar war: Gleichzeitig wurden aus 2.324 Städten und Gemeinden 396 neue Kommunen geschmiedet, was vielerorts zu Unzufriedenheit führte. Die neue Kommune Hamminkeln musste obendrein mit einer Besonderheit klarkommen: Ihr wurden nicht nur fünf niederrheinische Dörfer zugeschlagen. Alt-Schermbeck und Dingden wurden aus Westfalen „herausgeschnitten“.

Ganz Schermbeck hat sich mit der Gebietsreform anfangs schwergetan, denn man war nach Dorsten, bisher Kreisstadt, orientiert, denn Dorsten war nur neun, die neue Kreisstadt Wesel 23 Kilometer entfernt. Das ärgerte die niederrheinischen Schermbecker genauso wie ihre westfälischen „Leidensgenossen“ in Alt-Schermbeck. „Die beiden Orte waren schon vor der Gebietsreform zusammengewachsen, und manch einer muss heute überlegen, wo die genaue Grenze verläuft“, sagt Rainer Gardemann, der für den Heimatverein Führungen durch Schermbeck anbietet. 360 Tage im Jahr ist allen heutigen Schermbeckern gleichgültig, wohin sie gehören: „Nur zu Schützenfest ändert sich das für fünf Tage“, schmunzelt der Stadtführer. Beide Seiten haben ihre eigene Kilian Schützengilde und feiern am gleichen Tag Schützenfest: „Auch die Umzüge finden gleichzeitig statt und jede Kapelle spielt natürlich ihr eigenes Repertoire“, berichtet Gardemann. Für Außenstehende mag der Musik-Mix chaotisch wirken, „aber für uns ist er Tradition“, sagt Stadtführer Rainer Gardemann und da schwingt ein bisschen Stolz mit.

„Die Dingdener standen damals finanziell besser da als Hamminkeln und andere neue Ortsteile. Die Dingdener waren ein bisschen sauer, dass ihr Geld nun auch in den anderen Ortsteilen ausgegeben werden würde. Man fühlte sich benachteiligt“, sagt Holger Schlierf, der 1990 zunächst Beigeordneter und ab 2000 dann vierzehn Jahre lang Bürgermeister der „Stadt der sieben Dörfer“ war. „Dieses Gefühl, benachteiligt zu werden, ist auch heute noch gelegentlich bei älteren Dingdenern zu spüren“, erzählt Agnes Küpper, die in ihrer Gaststätte vielen Menschen begegnet. Anders bei jungen Leuten: „Meine Kinder wissen vermutlich gar nicht, dass es diese Gebietsreform gegeben hat und verstehen auch nicht, dass wir ab und an mal drüber sprechen, wie es vorher war.“

„Die Dingdener haben sogar vor dem Verwaltungsgericht gegen die Eingemeindung geklagt“, erinnert sich Holger Schlierf. Doch sie hatten keinen Erfolg damit. Udo Bovenkerk glaubt, dass die Gründung der Hamminkelner Realschule Anfang der 1990erjahre viel zur Integration Dingdens beigetragen hat: „Die Kinder aus Hamminkeln mussten nun nicht mehr unbedingt nach Bocholt auf die weiterführende Schule. Da entstanden dann Freundschaften, man lernte sich besser kennen.“

Agnes Küpper jedenfalls fährt inzwischen gern nach Hamminkeln zum Einkaufen und hat auch ihren Frieden mit dem Niederrhein gemacht: „Ich habe da viele nette Menschen kennengelernt und durch die Arbeit im Verein für Dorfentwicklung habe ich festgestellt, dass Dingden keineswegs benachteiligt wird.“

Gefrotzelt wird jedoch immer noch gern. Udo Bovenkerk erinnert sich daran, dass ein neuer Dingdener Kollege im Kreistag vor einigen Jahren von seinem Fraktionsvorsitzenden mit den Worten begrüßt worden sei, er habe sich wohl in der Adresse geirrt, er gehöre doch nach Borken. „Der Kollege hat dann lachend geantwortet, da wäre er auch viel lieber.“