Essen. Ein Essener Autozulieferer baut massiv Personal ab. In zwei Entlassungswellen werden viele ihre Stelle verlieren. Die Unruhe im Betrieb ist groß.

Am schwarzen Brett im Pförtnerhaus hängt noch die Ankündigung: „Informationsveranstaltung nur für Mitarbeiter der TMD Friction Services GmbH – Teilnahmepflicht!“ Im Rahmen „des anstehenden Personalabbaus“ wolle man sich treffen, heißt es weiter, über Verhandlungsergebnisse zum Interessenausgleich und Sozialplan informieren.

Am Montag, 20. Januar, um 10 Uhr schlug für die Mitarbeitenden die Stunde der Wahrheit. Rund 740 Beschäftigte hat die Firma an der Lüschershofstraße in Essen-Bergeborbeck, die auf die Entwicklung von Bremsbelägen spezialisiert ist. Fast 150 von ihnen müssen absehbar gehen, sie werden entlassen oder wechseln in eine neu gegründete Transfergesellschaft. Sie haben die Wahl, doch die Unternehmensleitung lässt den Betroffenen für ihre Entscheidung offenbar nur wenig Zeit.

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Essener Bremsbelag-Hersteller streicht fast 150 Jobs

TMD Friction bestätigt auf Anfrage dieser Redaktion die geplante Schrumpfung. Insgesamt sei ein Abbau von 148 Stellen geplant, teilt eine Unternehmenssprecherin mit, in zwei Schritten: zum Februar 2025 und zum Januar 2026. Im engen Austausch mit dem Betriebsrat sollen für die Betroffenen bestmögliche Lösungen gefunden werden.

Begründet wird die Maßnahme mit den „aktuellen Herausforderungen für die deutsche und internationale Automobilindustrie“. Als globales Unternehmen müsse man regionale und internationale Marktbedingungen berücksichtigen. Diese hätten sich grundlegend geändert, daher habe man beschlossen, am Standort Essen Stellen abzubauen. „Diese Entscheidung fällt uns nicht leicht“, heißt es in einem Statement der Geschäftsleitung, „ist aber notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu sichern.“ TMD Friction hat laut eigener Website aktuell 4200 Beschäftigte an 23 Standorten in zwölf Ländern.

Das Unternehmen entwickelt Bremsbeläge für namhafte Automobilhersteller, den Motorsport und industrielle Anwendung. Es bezeichnet sich selber als „weltweit führend in der Bremstechnologie“. Die sich zuspitzenden Probleme in der Automobilindustrie treffen die Firma, wie viele andere Zulieferer, offenbar hart.

Gewerkschaft: Am Montag sollen erste Kündigungen kommen

„Am kommenden Montag werden diejenigen, die nicht in die Transfergesellschaft wechseln wollen, betriebsbedingte Kündigungen erhalten“, sagt Zafer Ates, Leiter des auch Essen umfassenden Bezirks Niederrhein der Gewerkschaft IGBCE.

Die Gewerkschaft ist nach Angaben von Ates bei TMD Friction stark vertreten. Man habe dort einen sehr hohen Organisationgrad, annähernd 90 Prozent. Aufgrund der aktuellen Situation habe das Unternehmen Räume zur Verfügung gestellt, die jetzt als mobiles Gewerkschaftsbüro dienen. Aktuell würden dort Sprechstunden bis in den späten Abend hinein angeboten, ergänzt Zafer Ates: „Betriebsrat und Gewerkschaft betreuen die Betroffenen tagtäglich, teils bis in die Nacht, und versuchen, ihnen Halt zu geben. Es herrscht große Unruhe im Betrieb.“

Der Betriebsratsvorsitzende möchte auf Anfrage dieser Redaktion keine Stellungnahme zur Situation abgeben.

Etwa 100 Arbeitsplätze fallen im ersten Schritt weg, Wechsel in Transfergesellschaft angeboten

Nach Informationen von Zafer Ates sollen zunächst etwa 100 Stellen abgebaut werden, „sozial verträglich“. Wen es trifft, sei in der Belegschaftsversammlung am 20. Januar verkündet worden. Die Mitarbeiter sollten die Chance erhalten, sich weiterzubilden, „sie sollen von Arbeit in Arbeit kommen“. Die betroffenen Berufsgruppen seien sehr unterschiedlich: Neben Verfahrenstechnikern, Mechatronikern oder Schlossern habe der Betrieb auch viele angelernte Kräfte.

Zwei der Mitarbeiter stehen am Donnerstagmorgen, drei Tage nach der Belegschaftsversammlung, in einer kurzen Raucherpause vor dem Gebäude. Kommen die Kündigungen überraschend? „Gemunkelt wurde schon länger“, sagt einer der Männer. Doch erst am Montag hätte man sie informiert, kurzfristig könnten sie das Angebot, in die Transfergesellschaft zu wechseln, annehmen oder eben nicht. Es gebe nur wenige Tage Bedenkzeit. „Die Kollegen sind geknickt“, sagt der Mitarbeiter, „klar, es geht ja um die berufliche Existenz.“

Insolvenz im Jahr 2008 mit Hilfe eines neuen Investors überstanden

Schon Ende 2008 war TMD Friction, mit damals rund 600 Beschäftigten im Essener Stadthafen, in eine massive Krise gerutscht. Der Autoteile-Zulieferer musste sogar Insolvenz anmelden. Rettung kam im folgenden Frühjahr in Gestalt eines neuen Investors, einer Beteiligungsgesellschaft mit Sitz in London. 2011 wurde das Unternehmen dann vom japanischen Konzern Nisshinbo übernommen.

Arbeit in einer Produktionshalle von TMD Friction in Essen (Archivbild): Das Unternehmen stellt Bremsbeläge her, auch für den Motorsport.
Arbeit in einer Produktionshalle von TMD Friction in Essen (Archivbild): Das Unternehmen stellt Bremsbeläge her, auch für den Motorsport. © Funke | STEFAN AREND

Einige Jahre später jubelte man hier in der Stadt über die Entscheidung von TMD Friction, das Werk in Leverkusen zu schließen, die Fertigung nach Bergeborbeck zu verlagern, den hiesigen Standort auszubauen. Rund 570 Arbeitsplätze sollten vom Rhein an die Ruhr ziehen, etwa 53 Mio. Euro in die Essener Produktionsstätte investiert werden. Neben der Bremsbelag-Produktion zogen auch der Prototypenbau und der Vertrieb in den Essener Hafen. Offizieller Firmensitz ist nach wie vor Leverkusen.

Schon im Vorjahr etliche Monate Kurzarbeit

Vor gut einem Jahr gab es einen weiteren Umbruch: Anfang Dezember 2023 meldete TMD Friction die Übernahme durch Aequita, „eine inhabergeführte Industriegruppe mit Sitz in München, die sich auf den Erwerb und die langfristige Wertsteigerung von Unternehmen konzentriert“, heißt es in der Mitteilung, die hierzu veröffentlicht wurde. Die Marke sollte unter den neuen Eigentümern unabhängig bleiben.

Schon im folgenden Frühjahr gab es Kurzarbeit in gesamten Unternehmen, vom 11. März bis zum 31. Dezember 2024, „aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Situation (Konjunkturabschwächung in der Automobilbranche)“, so die entsprechende Ankündigung der Geschäftsführung.

Trotz Job-Abbaus werden neue Azubis gesucht

Trotz der Schrumpfung sucht TMD Friction neue Auszubildende für den Standort Essen. Im firmeneigenen Stellenportal werden aktuell Azubis unter anderem für die Berufe Industriemechaniker (m/w/d), Industriekaufmann oder -frau, Kunststoff- und Kautschuktechnologe (m/w/d) sowie Mechatroniker (m/w/d) gesucht. Das Essener Werk ganz zu schließen, sei wohl auch nicht die Absicht des Unternehmens, meint IGBCE-Bezirkschef Zafer Ates. „Doch wir bekommen viele Anfragen von jungen Mitarbeitern, ob wir sie weitervermitteln können.“

Dass bei TMD Friction Ruhe einkehrt, wenn die ersten Arbeitsplätze abgebaut sind, darf bezweifelt werden. Schon jetzt wird darüber spekuliert, wie viele Jobs es beim nächsten Schlag treffen wird. Welche Perspektive hat das Essener Werk? Die Geschäftsführung lässt es offen: „Angesichts der aktuell herausfordernden Situation in der Automobilindustrie und der damit verbundenen Unsicherheiten können wir zum jetzigen Zeitpunkt keine abschließenden Aussagen zu den Zukunftsperspektiven unseres Essener Standorts treffen.“

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