Essen-Horst. Spielzeug, Zigaretten, Schreibwaren, Kostüme: Marianne Masuhr führte ihr Geschäft in Horst leidenschaftlich. Fast vier Jahrzehnte existierte es.
„Ich muss noch schnell meinen Lottoschein abgeben!“ Diesen Ausruf hat Rainer Masuhr über die Geschichte geschrieben, die von seiner Mutter und ihrem beliebten Laden in Horst erzählt. Marianne Masuhr ist bereits verstorben und auch die Wandregale mit den Stumpenkerzen, dem Sandspielzeug, den Rollschuhen, dem drehbaren Bücherständer daneben und den Körbchen mit den Plastik-Autos darin sowie allerlei Nippes gibt es nicht mehr. Geblieben sind zahllose Erinnerungen – auch bei manchem in Horst und über den Stadtteil hinaus.
Das komplette Schaufenster an der Dahlhauser Straße sei von dem Regal mit Spielwaren verdeckt gewesen, so schreibt es Rainer Masuhr. Er hat einen Bericht über das Geschäft für das Geschichtsmagazin des Steeler Archivs, bei dem er Mitglied ist, verfasst und mit vielen alten Bildern veröffentlicht. Er berichtet auch von seiner Kindheit, seiner Familie und vor allem vom großen Respekt, da Marianne Masuhr ihr Geschäft über Jahrzehnte erfolgreich betrieb. Das war an der Dahlhauser Straße 167, wo zunächst ein Elektronik- und Fernsehladen folgte und nun die Bäckerei Edwin Heidrich eingezogen ist.
Angefangen aber hat die Geschichte des Schreib- und Spielwarengeschäftes mit der Lotto-Annahmestelle an der Dahlhauser Straße 171, dort wurde es gegründet. Die Idee stammt von Vertriebsinspektor Kurt Masuhr, „der schon in Kriegsgefangenschaft einen Buchladen mit Zigaretten betrieb“, hat Rainer Masuhr notiert. Die Kaufmannsprüfung aber habe seinerzeit die Schneidermeisterin Marianne Masuhr absolviert.
Kunden kamen oft mit einem Lächeln in das Geschäft in Essen-Horst
Als der Vater 1960 an den Spätfolgen der Malaria starb („die hatte er sich beim Afrika-Feldzug zugezogen“), stand die Witwe allein im Laden, zog ihren dreijährigen Sohn groß. Um den kümmerten sich auch Tanten, Großeltern und hilfsbereite Nachbarn. Manchmal nahm ihn seine Mutter mit in den Laden, wo er schon als Vierjähiger die Zeitung verkaufte – „allerdings vom Vortag“. Übel nahm ihm das offenbar niemand: „Die Kunden kamen mit einem Lächeln im Gesicht wieder.“
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Neben den rührenden Anekdoten sind Rainer Masuhr aber auch die harten Zeiten im Gedächtnis geblieben, da sein Vater neben dem Laden 17.000 DM Schulden hinterlassen hatte. „Meine Mutter nähte bis in die Nacht hinein Kleider für Nachbarn – neben der täglichen Arbeit im Geschäft“, blickt ihr Sohn zurück. Viel Freizeit habe es aber ohnehin nie gegeben, in all den Geschäftsjahren habe sie viermal Ferien gehabt. Dann aber seien es sonnige und unbeschwerte Tage gewesen.
Zu Hause putzte Marianne Masuhr samstags singend Wohnung und Treppenhaus, sonntags kochte sie schwäbisch („Schweinebraten mit reichlich Soße“) oder besuchte mit ihrem Sohn das Grab ihres verstorbenen Mannes und ging dann mit ihm essen. Sie verbrachten Sonntage in der Gruga, doch schon abends dachte die Mutter ans Geschäft („Morgen geht schon wieder das Sechstagerennen los!“). Der Laden sei schlicht und einfach ihr Leben gewesen.
In diesem bereiteten besonders Zeitungen und Magazine viel Arbeit, sie mussten jeden Morgen ausgepackt und in Aufsteller einsortiert werden. Dann kontrollierte Marianne Masuhr die Lieferliste, bevor sie nicht verkaufte Zeitschriften ins Büro trug und in die Remittenten-Liste eintrug. Samstags schnürte sie bis zu acht Pakete, die der Verleger abholte und gutschrieb. Beim Spiel- und Schreibwarenhändler holte die Mutter neue Waren selbst ab, erst mit dem Käfer, ab 1966 mit einem VW 1500, den sie gebraucht kaufte. Der Steuerberater habe kräftig nachhelfen müssen, damit sie sich ein derart großes Auto zulegte und die bessere Transportmöglichkeit sie überzeugte.
In den 1960er Jahren war es auch, als Marianne Masuhr eine Wohnung in dem Haus mietete, in dem sich auch ihr Laden befand. „Die Mutter von Hermann Großjung brachte uns täglich ein selbst gekochtes Mittagsessen. Gelegentlich gab es für mich ein Krüstchen von Hermann Köhne oder von Hanni Hannappel ein Schnitzel“, erinnert sich der Sohn an diese Zeit, die allerdings nicht lange währte. Weil die Familie des Hausbesitzers die Räume der Masuhrs selbst benötigte, stand ein erneuter Umzug an: Glücklicherweise habe gerade das Lebensmittelgeschäft Klawitter nebenan aufgehört: „Mutters Laden zog um in das Haus von Edgar Gorgas an der Dahlhauser Straße 167.“
Onkel Sepp reiste aus Ulm an und sie bauten gerade die Regale auf, „als Jürgen Sparwasser am 22. Juni 1974 das 1:0 der DDR gegen die BRD schoss“, berichtet Rainer Masuhr von den beiden zeitgleichen wie unvergessenen Ereignissen. Die Bundesrepublik sei Weltmeister geworden, den Kunden in Horst blieb ihr Geschäft erhalten. Wer hineinkam, blickte auf die breite Holztheke, die bis zum Umbau bei Cramer und Meermann am Kennedyplatz ihren Dienst erfüllte. In Horst lagen dann hinter den großen Glasscheiben Tesafilm, Federmäppchen, Füller, Farbkästen, Briefumschläge, Quittungsblöcke, Locher, Kartenspiele und Batterien auf 20 Schubladen verteilt.
Später schaffte eine kleinere Theke Platz für Rollwagen mit Kasse darauf, die immerhin so modern gewesen sei, dass sie Bons druckte. Mit der neuen Einrichtung aus dem Kurzwarengeschäft Hellwig gleich gegenüber wechselte auch die Mitarbeiterin Margot Schönhense („gute und treue Seele“).
Hinter der Theke wimmelte es zudem von Spielsachen. Überall im Laden standen Brummkreisel, Puppen und Fernlenkautos, in einem kleinen geheimnisvollen Kasten wiederum verbargen sich Kugelschreiberminen und Federn. Es gab ebenso eine Art Leihbücherei mit Krimis, Western, Arzt- und Liebesromanen wie zahllose Stifte, Pinsel, Fotoalben, Ton- und Geschenkpapier, Servietten, Tischkerzen, Frischhaltebeutel, Filtertüten, Toilettenpapier, Glückwunsch- und Ansichtskarten, zählt Rainer Masuhr auf. Daneben habe der Lotto-Tresen gestanden.
Krank durfte die Geschäftsfrau aus Essen-Horst nicht werden
Links neben der Lottomaschine („sie bedruckte die Scheine unter mordsmäßigem Lärm“) wurden zudem die Fahrkarten der EVAG verkauft, während sich Tabakwaren in einer Vitrine befanden und ein Dreiplattenherd wie Esstisch im hinteren Ladenbereich, der mit einer Rigips-Wand abgetrennt war.
Das Geschäftsleben sei nicht einfach gewesen, krank werden durfte die selbstständige Kauffrau ohnehin nicht, die eine weitere Eigenschaft besaß: „Meine Mutter konnte aus dem Stand heraus einschlafen und hatte nach einem kurzen Mittagsschläfchen wieder neue Kraft geschöpft.“ Die brauchte sie vor allem, als es in den späten 1980er Jahren einen Raubüberfall auf ihren Laden gab. Denn zu dem Schock kam noch die Weigerung der Versicherung hinzu, die erst nicht zahlen wollte, „weil meine Mutter sich körperlich nicht gewehrt hatte und das Geld widerstandslos herausgegeben hatte“, berichtet Rainer Masuhr.
Lagen regulär am Ende des Monats 30.000 DM in der Kasse, gehörten lediglich 900 seiner Mutter, von denen diese noch Personal, Betriebskosten und Gewerbesteuerzahlen musste, rechnet der Sohn vor, der als Zwölfjähriger im Laden stand, als seine Mutter im Krankenhaus lag. Später als Student übernahm er freitags die Lottoschein-Annahme, bevor er selbst sein Geld verdiente. 36 Jahre nach der Eröffnung war dann auch für Marianne Masuhr Schluss, sie verkaufte ihren Laden. Die Nachfolgerin jedoch habe lediglich zwei Jahre durchgehalten.
Discounter und große Spielwarenketten setzten den kleinen Geschäften in Essen zu
Die Zeiten hätten sich einfach geändert, es sei damals immer schwieriger geworden, sich gegen Discounter und große Spielwarenketten zu behaupten, blickt Rainer Masuhr zurück. So machten in den Stadtteilen schon in den 1980ern viele Geschäfte in angemieteten Ladenlokalen zu. Hauseigentümer hielten mit ihren Geschäften oftmals länger durch, fanden dann aber mitunter keinen Nachfolger, der wiederum hätte auch die Miete erwirtschaften müssen. So verschwanden in den Vierteln die Geschäfte nach und nach im Laufe der Jahre – nicht nur in Horst.
Geschichtsmagazin Stela Historica
Das Geschichtsmagazin des Steeler Archivs Stela Historica ist an folgenden Stellen erhältlich: im lokalen Buchhandel, im Steeler Whiskey-Fass und im Steeler Archiv, Hünnenghausenweg 96. Öffnungszeiten: Mo 16 bis 19 Uhr; Do und Sa 10 bis 13 Uhr. Online ist sie bestellbar unter: www.steeler-archiv.de.
Das 100 Seiten umfassende Magazin mit Berichten zur Steeler Geschichte kostet 7,50 Euro.
Marianne Masuhr hatte seinerzeit gelernt, jede Ecke des Raumes zu nutzen, auf Änderungen zu reagieren, das Sortiment zu erweitern. Sie sei damit äußerst erfolgreich gewesen: bis zu ihrer Rente. „Mutter wusste sich im Geschäftsleben zu behaupten“, sagt ihr Sohn und berichtet von ihrer spontanen wie kreativen Art, Filme zur Entwicklung anzunehmen, an Silvester Feuerwerkskörper und an Sankt Martin Lampions anzubieten sowie Kostüme zu Karneval und Scherzartikel (Bier aus der Tüte) bereitzuhalten. Mancher wird sich wohl heute noch an die tüchtige Inhaberin erinnern und vielleicht auch daran, wie er damals eben noch rasch seinen Lottoschein abgegeben hat.
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