Essen-Borbeck. Von der Küche bis zum Service: Inklusion schafft in der Borbecker Dampfbierbrauerei Perspektiven. Dafür gab es sogar ein Zertifikat.

Ein Inklusions-Zertifikat hat die Essener Arbeitsagentur in dieser Woche an die Borbecker Dampfbierbrauerei verliehen. Es würdigt damit das „vorbildliche Engagement des Betriebs für gelebte Inklusion und Vielfalt“. Das Beispiel der „Dampfe“ sei besonders inspirierend, so Hasan Klauser, Geschäftsführer Operativ der Agentur für Arbeit, da es zeige, „dass Inklusion ein Gewinn für alle Beteiligten ist und besonders auch in Branchen mit großem Fachkräftemangel neue Perspektiven schafft“.

  • Die Lokalredaktion Essen ist auch bei WhatsApp! Abonnieren Sie hier unseren kostenlosen Kanal: direkt zum Channel!

Gleich vier Menschen mit Einschränkungen arbeiten derzeit in der Dampfbierbrauerei. Zum Beispiel Frank Mauritz: In seinem Arbeitsvertrag steht „Küchenhilfe“, doch diesen Begriff mag er nicht. Seine Kolleginnen und Kollegen in der Dampfbierbrauerei bezeichnen ihn lieber als „Mädchen für alles“ oder „Mann für alle Fälle“. Das gefällt ihm schon besser. Immerhin steht er nicht nur in der Küche, sondern hilft bei der Bewirtschaftung des Hofs und greift in dieser Eigenschaft auch schon mal zum Laubbläser.

Essener rechnet ständig mit Epilepsie-Anfall

Der 49-Jährige ist stolz auf seinen Job in der Borbecker Gastronomie, denn seine Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt sind eingeschränkt. Mauritz ist an Epilepsie erkrankt. „Ich warte eigentlich ständig darauf, dass ein Anfall kommt“, sagt er. „2014 bin ich zum Amtsarzt gegangen und habe ihn gefragt, was ich denn überhaupt machen kann. Ob ich in einer Behindertenwerkstatt arbeiten soll oder etwas in der Art.“ Schließlich landete er in einer Fahrradwerkstatt der Neuen Arbeit. „Dann hat sich das so langsam entwickelt. Darüber bin ich in den ersten Arbeitsmarkt gekommen und dann schließlich hier in der Dampfe gelandet.“

Mitarbeiter Frank Mauritz kümmert sich um viele Dinge auf dem Borbecker Hof, auch Laubsaugen gehört immer mal wieder dazu.
Mitarbeiter Frank Mauritz kümmert sich um viele Dinge auf dem Borbecker Hof, auch Laubsaugen gehört immer mal wieder dazu. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Ebenfalls in der Küche ist Tim Schweitzer (36) tätig. Er ist gehörlos. Kevin Prymus hat eine angeborene Motorik-Schwäche. „Die ist noch nicht ausgiebig erforscht, dafür gibt es noch kein Heilmittel“, erklärt Prymus und führt aus, dass sich seine Krankheit nur manchmal auf die Arbeit auswirke: „Einen Stift zu halten oder eine Gabel, das fällt mir schwer. Aber zwei, drei Gläser in der Hand haben oder an der Theke stehen und Bier zapfen – das funktioniert ohne Probleme.“

Kevin Kamminski (24) wiederum hat eine Lernschwäche. Es gebe da einige Dinge, „die habe ich immer wieder falsch gemacht“, erzählt der junge Mann, der vor allem im Service eingesetzt wird. „Diese Dinge muss man mir zweimal erklären. Aber ich finde, das ist im Laufe der Zeit besser geworden.“ Denn die Arbeit hilft – auch gesundheitlich. „Früher hatte ich zwei oder drei Epilepsie-Anfälle pro Monat“, stimmt Mauritz zu. „Ich arbeite seit 2014 regelmäßig. Und das hat sich seitdem verbessert.“

Alle vier haben auch schon negative Erfahrungen im Berufsleben gemacht. Prymus etwa hat Gastronomie von der Pieke auf gelernt – bis er die Kündigung erhielt. „Die Förderung, die mein Arbeitgeber erhalten hat, ist damals ausgelaufen.“ Und damit war auch die Anstellung weg. Man benötige halt ein bisschen mehr Zeit, ein bisschen mehr Geduld, um Menschen mit Handicap in die Arbeit einzubinden, sagt sein heutiger Chef, „Dampfe“-Geschäftsführer Martin Grahl. Wichtig sei dabei, dass das gesamte Team hinter der Idee stehe und nicht nur der Chef: „Für uns ist das eine Selbstverständlichkeit, dass die Jungs bei uns arbeiten. Aber wir bekommen ja auch etwas zurück: Wir haben verlässliche Mitarbeiter und loyale Kollegen.“

Essen-Borbecker „Dampfe“ spielt Vorreiterrolle bei Inklusion

Dass ein Gastronomiebetrieb eine Vorreiterrolle in Sachen Inklusion übernimmt, ist keine Selbstverständlichkeit. Schließlich arbeiten die vier im engen Kontakt zu den Gästen, und noch immer gibt es in der Gesellschaft Vorurteile gegenüber Menschen mit Einschränkungen. Doch auch in einem anspruchsvollen Umfeld wie der Gastronomie könne Inklusion gelingen, sagt Grahl: „Inklusion muss zur Normalität werden. Solange das Thema als Sonderfall behandelt wird, bleibt der Weg schwierig.“

Mitarbeiter Kevin Prymus, Hasan Klauser von Agentur für Arbeit, Susanne Goldstein und Martin Grahl von der Dampfbierbrauerei sowie die Mitarbeiter Kevin Kamminski, Frank Mauritz und Tim Schweitzer (v.l.) bei der Überreichung des Inklusions-Zertifikats: Die „Dampfe“ hat erfolgreich vier Menschen ins Team integriert, die etwas mehr Unterstützungsbedarf in ihrem Arbeitsumfeld benötigen.
Mitarbeiter Kevin Prymus, Hasan Klauser von Agentur für Arbeit, Susanne Goldstein und Martin Grahl von der Dampfbierbrauerei sowie die Mitarbeiter Kevin Kamminski, Frank Mauritz und Tim Schweitzer (v.l.) bei der Überreichung des Inklusions-Zertifikats: Die „Dampfe“ hat erfolgreich vier Menschen ins Team integriert, die etwas mehr Unterstützungsbedarf in ihrem Arbeitsumfeld benötigen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Stattdessen sei es wichtig, Inklusion als selbstverständlichen Teil des Arbeitslebens zu begreifen. Es gebe unter den Kollegen nur ein Prinzip: Jeder und jede müsse einen Teil dazu beitragen, dass es funktioniere. Grahl: „Das Team macht es aus. Es braucht Bereitschaft und auch mal ein bisschen mehr Geduld. Und wenn etwas nicht funktioniert, dann fordert das Team von mir auch eine klare Entscheidung. Wenn es nicht gepasst hätte, dann hätte man sich halt trennen müssen. Aber es hat gepasst.“ Irgendwann schaue man in der Zusammenarbeit gar nicht mehr auf das Handicap. „Die Jungs haben hier eine Aufgabe, und wir geben ihnen einen Spielraum, in dem sie sich bewegen können. Zwischendrin muss man gelegentlich durch Gespräche nachjustieren. Aber eines ist klar: Das sind junge Menschen mit Power.“

Mit einer außergewöhnlichen Power, die sie nicht nur im Arbeitsumfeld einsetzen. In diesem Jahr konnte Grahl zweimal Sonderurlaub genehmigen: Denn „die beiden Kevins“ – Kamminski und Prymus – spielen Basketball und wurden ausgewählt, im Mai nach Berlin zu den Special Olympics zu fahren. Ein unvergessliches Erlebnis, wie sie erzählen. Vor allem die Begegnung mit Basketball-Superstar Dirk Nowitzki wird sie immer begleiten.

„Am Ende profitieren alle: die Menschen, die Unternehmen und die Gesellschaft.“

Christiane Mölder
Reha-Spezialistin der Essener Arbeitsagentur

Prymus durfte sogar in einem Werbespot für eine weltbekannte Softdrink-Marke mitspielen – eine Ehre, die nur wenigen Spitzensportlern zuteilwird. Apropos Spitzensportler: Welchen Platz haben sie eigentlich bei den Special Olympics World Games in Berlin belegt? „Wir haben gewonnen“, erwähnt Prymus eher beiläufig. Was das bedeutet? Mit den Unified Baskets Essen holte Prymus im sogenannten 3 x 3 für Deutschland die begehrte Goldmedaille – und stand nur wenige Tage später wieder hinter der Theke der Borbecker Dampfbierbrauerei und zapfte Bier.

„Ich bin stolz, hier zu arbeiten“, sagt er und erntet von seinen drei Mitstreitern ein zustimmendes Nicken. Prymus spart inzwischen für den Führerschein und sieht sich auf einem guten Weg. Für die vier Männer ist der Arbeitsplatz in der Gastronomie aber weit mehr als bloßes Einkommen. Neben der beruflichen Anerkennung, da sind sich alle einig, biete das Unternehmen auch ein respektvolles und unterstützendes Umfeld, in dem alle voneinander profitieren.

Essener holen Goldmedaille bei Special Olympics

Gleichzeitig sei das Unternehmen ein Vorbild, wie Barrieren abgebaut und Menschen mit Einschränkungen ein selbstbestimmtes Arbeitsleben ermöglicht werden könne, erklärte Klauser bei der Überreichung des Inklusions-Zertifikats. Mit der Auszeichnung möchte die Agentur für Arbeit nicht nur die Dampfbierbrauerei würdigen, sondern auch andere Betriebe dazu ermutigen, Inklusion zu leben, betont die Reha-Spezialistin der Arbeitsagentur, Christiane Mölder: „Am Ende profitieren alle: die Menschen, die Unternehmen und die Gesellschaft.“

[Essen-Newsletter hier gratis abonnieren | Folgen Sie uns auch auf Facebook, Instagram & WhatsApp | Auf einen Blick: Polizei- und Feuerwehr-Artikel + Innenstadt-Schwerpunkt + Rot-Weiss Essen + Lokalsport | Nachrichten aus: Süd + Rüttenscheid + Nord + Ost + Kettwig und Werden + Borbeck und West | Alle Artikel aus Essen]