Essen. Britta Reuter leitet die Notschlafstelle für Kinder und Jugendliche in Essen, den „Raum 58“. Die Nachfrage nach Betten ist so hoch wie nie.
Noch nie war die Notschlafstelle für obdachlose Jugendliche in Essen so ausgebucht wie derzeit. Das führt zu Konflikten, berichtet die Leiterin. Vor allem dann, wenn man Übernachtende kurzerhand wieder auf die Straße schicken muss.
Es ist 15.30 Uhr, als ich Britta Reuter antreffe, die Leiterin des „Raum 58“, der Notschlafstelle für Jugendliche in Essen. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, denn ab 21 Uhr öffnet die Notschlafstelle ihren Türen für Menschen zwischen 14 und 21 Jahren.
Wir sitzen am Esstisch im Aufenthaltsraum der Notschlafstelle. Um uns herum sitzen Plüschtiere auf Regalen und es hängen selbstgemalte Bilder an den Wänden. Es wird sehr deutlich, dass man es hier allen so ansprechend wie möglich machen will.
Die Notschlafstelle befindet sich in der Niederstraße, sie liegt am nördlichen Rand der Innenstadt in der Nähe der Uni. „Die Nachfrage ist so gut wie immer größer als das Angebot, wir bräuchten viel mehr Kapazitäten, die Zahl der Betten reicht so gut wie nie“, erzählt Britta Reuter.
Vorrang für Minderjährige
Etwa 20 bis 25 Jugendliche würden jeden Abend vor der Tür stehen und auf einen Schlafplatz hoffen, dabei gibt es regulär nur acht Betten. Im vergangenen Winter musste bereits ein Container vors Haus gestellt werden, der schafft nochmal Platz für vier Betten. Diejenigen, die keinen der begehrten Plätze ergattern können, müssten sich mit Isomatten und Schlafsäcken begnügen.
Im Raum 58 gilt: Minderjährige haben immer Vorrang. Das heißt: Es kommt vor, dass Volljährige ihren Schlafplatz zugunsten einer jüngeren Person wieder aufgeben müssen, wenn bis Mitternacht doch noch jemand Minderjähriges kommt. Britta Reuter erlebte dabei schon jegliche Art von Reaktionen. „Viele sind dann verärgert oder enttäuscht, schließlich geht es um so etwas Existenzielles wie ein Bett, und sei es nur für eine Nacht.“
Am Anfang muss man nicht seinen Namen sagen
Der Einlass ist jeden Abend von 21 bis 0 Uhr. Es gibt für jeden, der kommt, ein Abendessen. Während unseres Gesprächs klingelt permanent das Telefon von Britta Reuter. Es rufen schon jetzt, am Nachmittag, viele Jugendliche rufen an und wollen wissen, ob noch ein Bett frei ist.
Es gibt kaum Regeln im „Raum 58“. „Man muss hier erstmal gar nichts“, sagt Brita Reuter. Nur das Handy muss man abgeben. Drogen- und Gewaltverbot sind obligatorisch. Nicht mal der eigene Name muss vorerst preisgegeben werden. Erst nach der vierten Nacht im Raum 58 ist es nicht länger möglich, anonym zu bleiben.
Am schwersten aushaltbar für Britta Reuter sei es, wenn Minderjährige einfach eines Tages verschwinden und nicht wieder auftauchen. Passiert sein könne dann alles Mögliche und die Ungewissheit wäre unerträglich, denn „man fühlt sich schon irgendwie für die Jugendlichen verantwortlich.“
„Es sind die, die durch alle Raster gefallen sind“
Wenn sie keinen Platz im Raum 58 bekämen, würden sie sich oftmals irgendwelche Schlafplätze suchen, bei denen sie dann oftmals in Abhängigkeiten geraten würden. Schnell kommt Prostitution ins Spiel.
Wer kommt? „Es sind die, die durch alle Raster gefallen sind“, sagt Britta Reuter. Von zu Hause weggelaufen oder aus der Familie genommen worden, häufig auch aus Pflegefamilien. Die Schule schon lange nicht mehr besucht, in keinem Heim oder anderen regulären Unterbringungen sesshaft geworden. Wiedereingliederungs-Versuche wie Beschäftigungsmaßnahmen häufig gescheitert. Am Ende bleibt diesen jungen Menschen die Straße, ohne jegliche Perspektive.
Bei den Volljährigen hingegen sei es meist eher der Fall, dass die Verselbstständigung in das eigene Erwachsenenleben gescheitert sei. Dass sie beispielsweise mit der Verantwortung einer eigenen Wohnung und der Selbstorganisation überfordert waren. Nun fehle ihnen der Mut, es noch einmal zu versuchen.
20 bis 25 Prozent übernachten regelmäßig
Die Jugendlichen seien völlig mittellos und würden durch Betteln, Diebstahl und krumme Geschäfte oder auch Gelegenheitsprostitution an Geld kommen. Dass jemand nicht drogenabhängig ist, sei die Ausnahme. Schwarzfahren in Bus und Bahn sei Standard.
Viele seien bekannte Gesichter, denn 20 bis 25 Prozent würden regelmäßig Übernachtungen im Raum 58 in Anspruch nehmen. Die meisten seien über Monate, manche sogar über Jahre bekannt.
Manchmal hilft schon eine Tasse warmer Kakao
„Es ist nicht auszudenken, was manche schon durchmachen mussten. Das will man sich gar nicht vorstellen. Es sind unglaublich traurige Geschichten“, sagt Britta Reuter, die seit sieben Jahren im „Raum 58“ arbeitet.
Oft sind es die ganz einfachen Dinge, die schon etwas helfen. Die Jugendlichen sehnen sich nach stabilen Beziehungen zu Erwachsenen. Britta Reuter nennt das „nachbeeltern“: Einfach nur einen Kakao kochen und eine Wärmflasche machenm wäre schon ausreichend. Die Jugendlichen würden sich schlichtweg nach Eins-zu-Eins-Betreuung sehnen, denn das hätten sie viel zu wenig in ihrem bisherigen Leben erfahren. „Wenn wir jetzt nichts für die Jugendlichen tun, werden das wohnungslose Erwachsene. Und das gilt es zu vermeiden.“
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Es wäre gut, sagt Britta Reuter, „wenn wir nicht länger improvisieren müssten, um den Bedarf zu decken.“ Man sei dankbar für jede Spende, doch am Ende sei es wichtig, dass die Einrichtung dauerhaft mehr Kapazitäten bekommt. Nach einem Besuch im „Raum 58“ hat man keinen Zweifel mehr daran, wie dringend dieser Wunsch ist.
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