Essen. Kampf ums Zuhause geht weiter: Experte für Stadtraumentwicklung zeigt Alternativen zu Neubauplänen in Essen-Leithe auf und benennt Widersprüche.
Tränenreicher Abschied: Während die ersten Bewohner schweren Herzens aus der vom Abriss bedrohten Siedlung Litterode in Leithe ausgezogen sind, meldet sich ein Bau-Experte zu Wort: Die alten Häuser könnten durchaus gerettet und die Neubau-Pläne abgespeckt werden. Am Ende entstünde auch mehr Wohnraum mit besserer Klimabilanz. Professor Tim Rieniets von der Leibniz Universität in Hannover liefert die Argumente dafür. Er macht den Mietern Hoffnung, während der Eigentümer Allbau weiterhin bemüht ist, die Häuser leer zu ziehen.
Der Diplom-Ingenieur befasst sich vorwiegend mit Stadtraumentwicklung und beobachtet als gebürtiger Essener mit großem Interesse die Ereignisse in Leithe. Dort hatten Bewohner in den 1980er Jahren aus einer einstigen Obdachsiedlung mit viel Eigenarbeit ein lebenswertes Wohnviertel geschaffen, einfacher Standard, kleine Wohnflächen, großer Zusammenhalt. Heute leben dort ihre Kinder und Enkel. Die Menschen erhielten seinerzeit Mietverträge, Eigentümerin und Vermieterin war die Stadt.
Bei Sanierung der Litterode wäre die Gesamtbilanz in jedem Fall klimafreundlicher als geplante Neubauten
Geht es nun nach dem Allbau, der die Siedlung 2023 erwarb, sollen die Mieter ausziehen, die schlichten Häuser abgerissen werden und Neubauten entstehen. Als hochwertig und klimaneutral bewirbt die Wohnungsgesellschaft das geplante Quartier mit 60 öffentlich geförderten Mietwohnungen und 13 Eigenheimen. Rieniets hält dagegen: Würden die alten Häuser saniert und weiter bewohnt werden, wären sie in der Gesamtbilanz in jedem Fall klimafreundlicher als die geplanten Neubauwohnungen. Sie würden eine Ökobilanz erzielen, die durch einen Neubau kaum erreicht werden könnte.
Der Allbau schaue lediglich auf den Status quo, lautet eine Kritik. Dabei sei bei der Planung neuer Wohngebäude zu berücksichtigen, dass ca. 25 Prozent der Treibhausgasemissionen, die während des gesamten Lebenszyklus der Gebäude entstehen, durch Herstellungsprozesse und Lieferketten verursacht würden („graue Emissionen“). „Das hat zur Folge, dass ein Neubau bereits durch seine Herstellung große Mengen an Treibhausgasemissionen verursacht“, sagt Tim Rieniets, der am Institut für Entwerfen und Städtebau der Fakultät für Architektur und Landschaft beschäftigt ist.
Ein Neubau sei also zunächst klimaschädlicher als ein Altbau. Studien hätten gezeigt, dass ein solcher Neubau erst mehrere Jahrzehnte in Betrieb gewesen sein muss, bevor er in der ökologischen Gesamtbilanz besser abschneidet als der Altbau. „Leider verlangt der Gesetzgeber nicht, dass die Umweltbelastungen erfasst werden, die durch den Bau neuer Häuser entstehen“, bedauert er. Ein Unternehmen wie der Allbau, das sich nach eigener Aussage um die Nachhaltigkeit seiner Gebäude sorgt, sollte diese „grauen Emissionen“ unbedingt berücksichtigen. Die müssen laut Gesetz zwar nicht berücksichtigt werden, fallen aber de facto ins Gewicht.
Einen blinden Fleck bescheinigt der Experte der Wohnungsgesellschaft auch bei der Flächenversiegelung und dem durch den Abriss anfallenden Bauschutt. Bauabfälle würden größtenteils auf die Deponie kommen oder für minderwertige Zwecke verwendet werden. Für den Neubau müssten weiterhin große Mengen nicht erneuerbare Ressourcen verwendet werden. Außerdem würden die Neubaumaßnahmen die Flächenversiegelung vorantreiben.
„Das widerspricht nicht nur den Zielen der Bundesregierung, sondern steht auch einer klimagerechten Stadtentwicklung entgegen, die Flächen für die Versickerung von Regenwasser und für die Kühlung des Mikroklimas vorhalten muss“, führt der Professor aus. Die geplanten 100 Stellplätze widersprechen ebenfalls der vom Allbau angeführten Nachhaltigkeit: „Eine nachhaltig geplante und genutzte Siedlung sollte mit weniger Pkw auskommen und die Flächen anderweitig nutzen.“
Die negative Energiebilanz der derzeitigen Häuser und das Heizen mit ineffizienten Öfen seien zudem auch durch die Stadt verschuldet, da sie die Bauten - anders als zugesagt - nie an das vorhandene Gasnetz angeschlossen hat. Ein Versäumnis, das sich nach Ansicht des Experten heilen ließe: Die Satteldächer eigenen sich für Photovoltaik und/oder Solarthermie, auch Kraftwärmepumpen hält er für möglich.
Die jetzigen Bewohner der Litterode punkten laut Rieniets dagegen allein durch ihre bescheidenen Flächenansprüche: etwa 25 Quadratmeter pro Kopf nutzen sie, im Bundesdurchschnitt sind es 47,4 qm - fast doppelt so viel. Die CO₂-Emissionen dürften in der Litterode pro Person heute schon sehr gering sein. All das bestätigt Bewohner wie Dirk Bolduan und Hevres Becker in ihrem Protest. „Wir sind offenbar auf dem richtigen Weg“, sagt die zweifache Mutter aus der Litterode.
Ihren großen Zusammenhalt und den Lebensstil der Bewohner hält der Professor nicht allein für ein emotionales Argument: Sie nutzten die großzügigen Freiflächen gern gemeinsam, mit diesem Gemeinschaftsleben könnten sie leichter auf üppige private Wohnflächen verzichten. Das sei so vorbildlich wie innovativ. Gegenseitige Hilfe und generationenübergreifende Lebensmodelle seien an der Tagesordnung. Das sorge nicht nur für eine hohe Zufriedenheit unter den Mietern, sondern dürfte sich auch günstig auf die Inanspruchnahme von Transferleistungen auswirken, sagt er zu einer Folge fürs soziale System.
Unbestreitbar sei, dass mit dem Neubauprojekt insgesamt mehr Wohnraum geschaffen werde. Angesichts der großen Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum sei dies ein schlagkräftiges Argument, mit dem der Allbau alle sozialen und ökologischen Gegenargumente aushebeln könne. Jedoch entstünden nach den Neubauplänen eben auch ein deutlich höheres Flächenangebot pro Partei. Das gelte besonders bei den Eigenheimen, die in puncto Umweltfreundlichkeit grundsätzlich schlecht abschneiden. „Sie verfügen meist über überdurchschnittlich viel Wohnfläche, die beheizt werden muss und haben zudem eine überproportional große Außenfläche, die Heizwärmeverluste zur Folge hat“, erläutert Rieniets.
Aus der Geschichte der Siedlung Litterode
Die Siedlung Litterode galt einst als Vorzeigeprojekt der Stadt, bei dem die Bewohner in den 1980er Jahren die ehemalige Obdachlosensiedlung selbst sanierten. Dafür erhielten sie damals Mietverträge. Mit den Kündigungen in der Hand ist das Gefühl, behütet in eine jahrelang gewachsenen Gemeinschaft zu leben, jetzt großen Sorgen und noch mehr Angst gewichen.
Nachdem der Allbau die Siedlung im Vorjahr von der Stadt gekauft hat, erhielten die Mieter zunächst ein beruhigendes Schreiben: Alles bleibe, wie gewohnt. Ein Fehler, wie der Allbau inzwischen einräumte. Denn längst hatten auch Stadt und Politik die Siedlung in den Jahren zuvor als Problemimmobilie eingestuft. Warum, das haben die Bewohner nie erfahren. Manche Politiker hätten seinerzeit mit einem Blick auf Google Maps das Schicksal der Litterode beschlossen. Fassungslos haben Bewohner wie Dirk Bolduan und Hevres Becker davon erfahren.
Schon seit etwa 14 Jahren werden leer gewordene Häuser nicht mehr neu vermietet und verfallen. 19 Mietparteien übernahm der Allbau noch. Rund 60 Menschen. Ihnen präsentierte er rasch seine Pläne: 73 neue Wohneinheiten sollen rund um die Straßen Litterode und Rudolfstraße entstehen, 60 öffentlich geförderte Mietwohnungen. 13 frei finanzierte Einfamilienhäuser zum Verkauf. Für die einen ist es ein Stadtteilentwicklungsprojekt mit dringend benötigtem, modernen Wohnraum und der große Wurf, für die anderen der Verlust eines Kleinods und ihrer Heimat.
Der Allbau hat den Menschen in der Litterode inzwischen Angebote gemacht („vier Parteien haben die gleiche Wohnung angeboten bekommen“) und Hilfe beim Umzug angeboten. Einen Minimalkonsens gab es bislang nicht, hatten doch die Mieter gehofft, zumindest Wohnraum in den Neubauten zugesichert zu bekommen, wie es andere Wohngesellschaften auch in Essen in solchen Fällen durchaus tun. So wären die Litteroder zumindest nicht alle auseinandergerissen worden. Stattdessen fühlen sie sich belogen und herablassend behandelt („wie Menschen dritter Klasse“), von Stadt und Allbau hintergangen, von der Politik arrogant abgewimmelt. Sie waren sogar bei Oberbürgermeister Thomas Kufen, hätten ihn dann eingeladen - vergebens.
Es entstehe insgesamt der Eindruck, dass der Allbau keine alternative Planung in Erwägung gezogen habe. Mit dieser könnte geprüft werden, ob alter Wohnungsbestand erhalten und gleichzeitig neuer Wohnraum geschaffen werden könnte. So könnte schätzungsweise mit insgesamt mit rund 50 bis 60 Wohneinheiten gerechnet werden – alte plus neue Wohneinheiten.
Dafür müsste der Allbau seine Pläne nicht einmal gänzlich aufgeben, sondern sollte prüfen, ob sie den Bau neuer Wohneinheiten auf die nordwestlich und südöstlich liegenden Grundstücke begrenzen könnte. Auf diese Weise könnte ein Kompromiss zwischen sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit einerseits und Wirtschaftlichkeit andererseits gefunden werden. „Zwar müsste der Allbau mit weniger neuen Wohnungen kalkulieren, würde dafür aber Bau- und Planungskosten sparen und außerdem eine wesentlich höhere, soziale und ökologische Nachhaltigkeit erzielen“, fasst der Experte die Idee zusammen.
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Würde man die Gebäude an der Litterorde über ihren gesamten Lebenszyklus bilanzieren, dürften diese Gebäude aufgrund ihres hohen Alters und ihrer geringen Größe im Vergleich zu anderen Wohngebäuden gut abschneiden, lautet sein Fazit nach dem Besuch in der Siedlung.
Das Leben auf kleiner Fläche, gepaart mit einem intensiven Gemeinschaftsleben, gelte in Fachkreisen als vorbildlich und werde auch immer häufiger in neuen Wohnprojekten erprobt – in der Litterode wird es sei Jahrzehnten gelebt. Beispielgebend sei daher auch die Geschichte der Siedlung, insbesondere die von der Stadt und den Bewohnern und Bewohnerinnen in den 1980er Jahren gemeinschaftlich durchgeführte Sanierung, sagt Tim Rieniets. „Anstatt die baulichen Zeugnisse dieser Geschichte zu vernichten, könnte sie um ein neues Kapitel weitergeschrieben werden.“ Mit den alten Bewohnern, ohne Angst.
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