Essen. Christian Kullmann, Manager des Essener Chemieunternehmens, redet auf der Kundgebung zum AfD-Parteitag am Samstag klare Kante. Hier erklärt er, warum.
Herr Kullmann, Wirtschaftslenker halten sich in Sachen Politik gerne raus, Sie nicht. Warum eigentlich?
Ein Gott und Guru der Wirtschaftswissenschaften, Milton Friedman, hat mal die Aussage geprägt: „The business of the business ist the business“. Ich finde das falsch. Das würde ja bedeuten, dass wir unsere Geschäfte in einem quasi abgeschlossenen, isolierten Raum machen. Was wir tun, wie wir handeln, tun wir immer auch unter Berücksichtigung der politischen Umstände, der Gesellschaft, in der wir leben. Und damit hat Wirtschaft auch gesellschaftliche Verantwortung. Diese Verantwortung nehme ich wahr.
Viele Ihrer Kollegen in börsennotierten Firmen halten sich dennoch fein raus.
Aber es sind immer weniger. Mehr und mehr Unternehmen und Manager schließen sich zusammen, um sich für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit einzusetzen. Ich gebe Ihnen allerdings Recht: Bis zum Herbst vergangenen Jahres war das anders.
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Gab das Anlass für Diskussionen?
Die Frage stand immer im Raum: Sollen wir uns engagieren, oder sollen wir uns zurückhalten und das der Politik überlassen? Klar, Politik machen die, die von uns gewählt sind, aber das heißt doch nicht, dass sich alle anderen in Wirtschaft und Wissenschaft, in Kunst, Kultur und Sport herauszuhalten haben. Demokratie bedeutet doch nicht, dass ich alle vier Jahre nur mein Kreuzchen mache…
...und dann hab ich wieder Ruhe…
... genau. Demokratie bedeutet, dass ich mich auch für das Gemeinwesen, für die Gesellschaft engagiere. Demokratie funktioniert nicht ohne Demokraten.
Essens Oberbürgermeister hat Evonik-Chef gebeten, auf AfD-Kundgebung zu sprechen
Teilen Sie den Eindruck, dass die Einmischung in dem Maße zunimmt, in dem die AfD Zulauf erhält?
Das ist eine spannende Frage. Ich glaube tatsächlich, dass es da eine Analogie gibt. Und die begründet sich für mich darin, dass die Bedrohung für Liberalität, für Toleranz, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Meinungsfreiheit in dem Maße zunimmt, in dem die AfD erfolgreicher wird. Das mag viele meiner Kolleginnen und Kollegen in der Wirtschaft bewogen haben, sich klarer zu äußern, als wir alle das in der Vergangenheit getan haben.
Nun lässt sich klar Position beziehen von einem schönen Schreibtisch aus, man kann sich aber auch an einem Samstagnachmittag auf den Essener Messe-Parkplatz 2 stellen und das Wort ergreifen. Was hat Sie bewogen zu sagen: Ich gehe da hin?
Der Oberbürgermeister hat mich gefragt, und ich habe, ohne lang nachzudenken, Ja gesagt. Weil ich Thomas Kufen sehr schätze, ist mir das doppelt leichtgefallen. Politik findet ja auch nicht im stillen Kämmerlein statt, sondern in der Öffentlichkeit. Da wird gestritten um die besseren Positionen, da werden Kompromisse gesucht. Deshalb muss auch ich in die Öffentlichkeit gehen und dort im Zweifel Kritik und Konflikte aushalten. Das ist das Salz in der Suppe einer Demokratie.
Und eines Unternehmens mit großer Spannbreite.
Ja, Evonik ist weltweit tätig, beschäftigt über 30.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Was macht den Erfolg eines solchen Unternehmens aus? Liberalität und Toleranz: Egal wo du herkommst, egal welche Hautfarbe du hast, welcher Religion du angehörst, in welchem Kulturkreis du dich zuhause fühlst – hier sind alle gleich.
Evonik-Chef: „Müssen den Menschen erklären, dass sie keine Angst zu haben brauchen“
Soweit die Theorie.
Ich mache mir da nichts vor: Evonik ist in Deutschland und weltweit ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Situation. Das heißt, wir sind keine „weißen Raben“, auch in unseren Reihen dürfte es Zuspruch für die AfD geben.
Am Evonik-Stammsitz Essen hat die Partei in 12 von 50 Stadtteilen bei der Europawahl 20 Prozent der Stimmen und mehr bekommen, in fünf Stadtteilen ist sie stärkste Kraft geworden.
Weil es ihr durchaus gelingt, Ängste, die sie in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Milieus identifiziert hat, populär und populistisch anzusprechen. Ich sehe da aber keine inhaltliche Substanz, sondern den durchaus erfolgreichen Versuch von blau-braunen AfD-Funktionären, diese Ängste für eigene Partei-Interessen zu instrumentalisieren.
Was also tun?
Erst einmal müssen wir den Menschen erklären: Habt keine Angst. Für mich ist das am Samstag deshalb auch keine „Gegen“-Demo, sondern eine Kundgebung, bei der wir uns auf die Bühne stellen, um zu erklären, w o f ü r wir stehen. Wir werben für das, was dieses Land liberal, demokratisch, wirtschaftlich erfolgreich gemacht hat. Mit einem Wohlstand, der in der Welt immer noch bewundert wird.
Obwohl die Vorzeichen sich wandeln.
Es ist richtig, dass wir Probleme haben. Die AfD reagiert darauf mit einem „Früher war alles besser“, zurück in die Vergangenheit, raus aus der Europäischen Union, Ausländer möglichst abschieben, Deutschland den Deutschen – das ist so profan und so plump wie auch primitiv und falsch. Es verfängt aber dort, wo Menschen eine Sehnsucht nach Kontrolle spüren.
Alle Kritik an der AfD hat aber nicht dazu geführt, dass der Zulauf zu der Partei versiegt, im Gegenteil. Manche vertreten deshalb die These, dass jeglicher Protest eher kontraproduktiv ist und ein „Jetzt erst recht“-Gefühl auslöst. Was meinen Sie?
Eine rechtsextreme Partei kann ich nicht ausschließlich damit stellen, dass ich an moralische Prinzipien appelliere. Das ist in der Tat immer zugleich auch Wasser auf die Mühlen der AfD, weil sie sich ja gerade in der Provokation, in der Ablehnung, im bewussten Suchen dieses Konfliktes wunderbar inszenieren kann.
Vor AfD-Parteitag: „Wir müssen die AfD inhaltlich stellen“
Und zwar oft haarscharf an der Grenze des Sagbaren, manchmal davor, mitunter auch dahinter. Das war ja auch Thema der Kündigung des Mietvertrags mit der Grugahalle.
Die Grenze des Sagbaren hat die AfD schon sehr oft überschritten und tut es auch immer wieder, weil es für die Partei diese Grenze in ihrem Verständnis gar nicht gibt. Sie nutzt diese vermeintliche Grenzziehung vielmehr, um zu provozieren, um damit Aufmerksamkeit auszulösen, um sich quasi gegen Demokratie, gegen diesen Rechtsstaat inszenieren zu können. Daraus folgert: Wir müssen die AfD auch inhaltlich stellen, müssen konkret sagen, wofür diese Partei eintritt und was das für Deutschland bedeuten würde: schwerwiegendste Verwerfungen und dramatische Wohlstandsverluste.
Aber ist die AfD nicht eigentlich ein „One-Trick-Pony“, ein Zirkuspferd, das nur ein Kunststück drauf hat, nämlich das Thema Migration in die Manege zu zerren, bei der ja tatsächlich viele Fragen ungelöst sind?
Ich glaube, dass es in westlichen Demokratien ein Potenzial radikaler Konfliktfähigkeit gibt, das etwa um die 15 Prozent liegt. Das drückt sich in einer Bevölkerungsgruppe aus, die dem Staatssystem, der gesellschaftlichen Verfasstheit grundsätzlich kritisch bis ablehnend gegenübersteht. Dieses Potenzial wird je nach Lage aktiviert oder eben nicht. Heute ist es das populistisch sehr aufgeladene Thema Migration. Wenn wir das besser in den Griff bekommen, wird morgen ein neues Thema an die gleiche Stelle rücken. Ich gehe also nicht davon aus, dass die Wahlergebnisse für die AfD absacken, wenn wir nur dieses eine Thema lösen. Die Lage ist komplexer.
Mit dieser komplexen Welt kommen viele Menschen aber nicht klar. Sie wünschen sich Karo einfach-Antworten und folgen denen, die sie vermeintlich parat haben.
Ja, das ist so, dem kann ich nur zustimmen. Die Komplexität ist hoch. Lummerland brennt. Wir haben uns in den vergangenen Jahrzehnten sehr nett eingerichtet: Für unsere Sicherheit waren die Amerikaner zuständig, wir haben insbesondere China als „Abwurfplatz“ für unsere Produkte genutzt, die preiswerte Energie kam aus Russland. Und immer dann, wenn es internationale Konflikte gab, haben wir uns sehr zurückgenommen – mit Hinweis auf unsere Geschichte.
Und jetzt bricht alles in sich zusammen…
Nein, nein, das ist mir zu faustisch. Ich sage: Jetzt verändert sich alles. Und diese Veränderungen, die enorm komplex sind, sorgen bei vielen Menschen für Verunsicherung, was ich gut verstehen kann. Dabei liegen in den Veränderungen auch fantastische Chancen. Wir stehen an der Pforte einer industriellen Revolution. Wir werden zwar bei den einfachen Produkten, die jedermann auf der Welt herstellen kann, in den nächsten 15 bis 20 Jahren erhebliche Marktanteile verlieren, weil das andere vergleichbar gut oder gar besser können. Aber wir bieten bei Innovation und Technologieführerschaft, also dort, wo es die Antworten für morgen gibt, wo neue Märkte entstehen, in vielen Bereichen immer noch Weltmaßstab.
Ist Ihnen die öffentliche Debatte also zu jammerlappig?
Das geht mir zu weit. Ich nehme eine bedrückte Stimmung in der Bevölkerung wahr: Unsere Infrastruktur ist malade, unser Bildungssystem schwächelt, Renten- und Sozialsystem stehen vor großen Herausforderungen, dazu kommt die Klimafrage. Ich kann die Verunsicherung darüber nachvollziehen, aber was macht es besser? Nichts. Wir müssen anerkennen, dass wir den Status Quo nicht erhalten können. Wir müssen uns verändern, um es besser zu machen.
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Evonik-Vorstandschef Christian Kullmann vor AfD-Parteitag in Essen: „Wir müssen handeln“
„Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte“, hat Gustav Heinemann einmal gesagt.
Und deshalb müssen wir handeln. Die Antwort liegt nicht darin, aus der EU auszutreten. Und auch nicht darin, deutlich nationalistischer zu agieren. Nationalismus ist immer eine schäbige Sache, er setzt auf eine dumpfe Gefühligkeit in der Bevölkerung, die sich darin ausdrückt zu sagen: Wir sind den anderen überlegen und schauen deshalb auf die anderen herab. Das ist aber keine Basis für Geschäfte.
Womit wir wieder am Anfang wären, bei der AfD und Ihrer Teilnahme an der Kundgebung. Manch einer hatte, weil auch Linksaußen dazu aufrufen, im Vorfeld Berührungsängste. Sie nicht. Warum?
Weil ich dort f ü r etwas rede. Und wenn ich sage, dass ich dieses Unternehmen im Sinne von Liberalität und Toleranz führe, dann darf ich auch keine Berührungsängste mit anderen politischen Farben haben, die sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen. Wenn linke Gruppen dazu aufrufen – warum soll ich mit denen nicht diskutieren? Demokratie lebt doch von der Pluralität. Vom Streit um den besten Weg.
Sie werden am Samstag auf der Bühne an P2 stehen, werden dort reden und danach wieder heimgehen. In welcher Hoffnung?
Ich gehe hin mit der Absicht zu erklären, warum die AfD für die Arbeitsplätze, für die Wirtschaftskraft und unseren Wohlstand und für unsere Rolle in der Welt schlecht ist. Andersherum gesagt: Ich gehe hin, um all diese Punkte zu benennen und zu erklären, warum Demokratie so wichtig ist, Liberalität und Toleranz. Ich hoffe, dass man mir zuhört. Und dass ich vielleicht einen Menschen von der AfD erreiche, der aus dem Parteitagsgebäude, der Grugahalle, rausguckt und sagt: Eigentlich hat er Recht.
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