Essen. Wenn die Mutter in der Schwangerschaft Alkohol trinkt, kann das fatale Folgen haben. So wird betroffenen Familien geholfen.

Sie scheitern in Freundschaften, Schule und Ausbildung: Kinder und Jugendliche mit FASD erleben Misserfolge und sehen sich als faul, unwillig und sozial problematisch abgestempelt. Weil ihre Mütter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben, sind sie lebenslang geschädigt. „Da wächst sich nichts aus“, sagt Vanessa Voigt, Leiterin des Bereichs Familie bei der Essener „Lebenshilfe“, die Betroffene und Eltern unterstützt.

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In ihrem 2020 gegründeten FASD-Zentrum bietet die Lebenshilfe Einzelförderung, Gruppenangebote und eine Selbsthilfegruppe für (Pflege- oder Adoptiv-)Eltern. FASD steht für „Fetale Alkoholspektrumstörung“, die alle Erkrankungen umfasst, die durch Trinken in der Schwangerschaft ausgelöst werden. Das Thema sei schambehaftet, die Mütter sähen sich als asoziale Alkoholikerinnen verunglimpft. Dabei könne schon mäßiger Konsum schädlich sein. Und: „Heilbar ist FASD nicht. Wir versuchen, Betroffenen einen Weg aufzuzeigen, wie sie besser damit klarkommen können“, sagt Vanessa Voigt.

Alkohol in der Schwangerschaft: Betroffene Kinder werden häufig nicht oder falsch diagnostiziert

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Die Familien sind oft schon erleichtert, wenn sie endlich die Diagnose für ihr Kind bekommen: Häufig werden die Jungen und Mädchen lange Zeit nicht oder falsch diagnostiziert, bekommen das Etikett ADHS oder Autismus. Eltern wird geraten, in der Erziehung konsequenter zu sein, die Kinder hören, dass sie sich mehr anstrengen sollen. „Die Eltern fühlen sich mit ihren Sorgen oft nicht ernst genommen.“

„Heilbar ist FASD nicht. Wir versuchen, Betroffenen einen Weg aufzuzeigen, wie sie besser damit klarkommen können.““

Vanessa Voigt, Leiterin des Bereichs Familie bei der Essener Lebenshilfe.

FASD: Von einem auf den anderen Tag kommen einfache Fähigkeiten abhanden

Lena Meister, die schon ihre Masterarbeit im Fach Soziale Arbeit über die alkoholbedingte Hirnschädigung geschrieben hat und das FASD-Zentrum leitet, sagt: „Für Außenstehende ist FASD wenig greifbar, weil sich die Kinder oft verbal gut verkaufen, höflich und nett sein können.“ Auf Druck reagierten sie jedoch so impulsiv, dass es ihr Umfeld verstöre. Weil ihre Lern- und Merkfähigkeit stark eingeschränkt ist, kann es passieren, dass ihnen teils einfache Fähigkeiten wie Schuhe binden von heute auf morgen abhandenkommen.

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„Im Kindergartenalter fällt das nicht immer so auf, doch spätestens mit der Einschulung und den schulischen Anforderungen beginnen die Probleme“, sagt Vanessa Voigt. Manchen gelinge es nicht, sich an die Regeln zu halten, andere kämen ruhig und unauffällig durch den Schultag, „aber sobald sie zu Hause sind, explodieren sie“. Für die Eltern sei das ebenso belastend wie das Unverständnis, das ihnen oft bei den Lehrern begegne. „Wir sind der mentale Briefkasten für die Eltern.“

Anlaufstelle für alle, die FASD betrifft

Wenn Frauen in der Schwangerschaft Alkohol trinken, schädigt das ihr Kind. Mit dem Sammelbegriff „Fetale Alkoholspektrumstörung“ (FASD) bezeichnet man die Folgeerkrankungen, die unterschiedlich schwer ausfallen. FASD kann gelindert werden, ist aber nicht heilbar. Die Lern- und Merkfähigkeit der Kinder ist meist stark eingeschränkt, ihre Verhaltensweisen sind für Außenstehende oft kaum nachvollziehbar.

Das FASD-Zentrum Essen der Lebenshilfe e.V. berät und unterstützt betroffene Kinder und ihre (Pflege- oder Adoptiv-)Eltern. Die Fachleute gehen davon aus, dass 20 Prozent der Fälle in der Jugendhilfe von FASD betroffen sind, die Betroffenen aber oft keine oder eine falsche Diagnose haben. Das Team möchte daher nicht nur die Familien unterstützen, sondern auch Ärzte sowie pädagogische Fachkräfte über FASD informieren. Regelmäßig gibt es Fortbildungen. Außerdem gibt es neuerdings eine Gruppe für Erwachsene mit FASD.

Ansprechpartnerin ist die Leiterin des Zentrums, Lena Meister: 0201-10 229 056, Mail: l.meister@lebenshilfe-essen.de

Zentrum informiert auch Ärzte und Pädagogen über die alkoholbedingte Schädigung

Von der Einzelförderung bis zur Selbsthilfegruppe für Eltern, von der Fortbildung für Fachkräfte bis zur Gruppe für Betroffene im Erwachsenenalter reicht das Angebot des FASD-Zentrums Essen.
Von der Einzelförderung bis zur Selbsthilfegruppe für Eltern, von der Fortbildung für Fachkräfte bis zur Gruppe für Betroffene im Erwachsenenalter reicht das Angebot des FASD-Zentrums Essen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

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Daneben hat das Zentrum auch eine aufklärerische Mission: Es möchte Ärzte sowie Erzieher, Lehrer und andere pädagogische Kräfte, die mit FASD oft nicht oder zu wenig vertraut sind, informieren. Fortbildungen sollen helfen, dass FASD zuverlässiger diagnostiziert und das Verhalten der Kinder entsprechend eingeordnet wird. Diese bringen sich zum Beispiel immer wieder in Problemlagen, weil sie auch als Heranwachsende sehr naiv und vertrauensselig bleiben, nicht mit Geld umgehen können: „Sie verleihen gern Geld an andere und haben dann selbst keins mehr.“ Was vom kurzfristigen Engpass bis zur langfristigen Verschuldung führen könne. Bei anderen löst ihr permanentes Scheitern Depressionen oder sogar Suizidgedanken aus.

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Ohne Begleitung können die Betroffenen auf eine fatale Rutschbahn geraten, zumal sie auch ein erhöhtes Suchtrisiko haben. Für den 29-Jährigen, der drogenabhängig ist und auf der Straße lebt, könnten sie praktisch nichts tun, bedauern die beiden Frauen. Grundsätzlich wollen sie aber auch Betroffenen im Erwachsenenalter helfen, eine Diagnose und Unterstützung zu bekommen. So bietet das Zentrum jetzt auch eine Gruppe für Erwachsene an.

Eltern denken, dass sie etwas falsch gemacht hätten

Viele der Kinder mit FASD wachsen nicht bei den leiblichen Eltern auf, sondern in Pflege- und Adoptivfamilien, die mitunter von Jugendämtern nicht gut aufgeklärt werden. Nicht immer gebe es eine gründliche Diagnostik. „Es heißt dann schon mal, die Kinder hätten ja einen schwierigen Start ins Leben gehabt und man wolle ihnen doch nicht gleich einen Stempel aufdrücken“, erzählt Vanessa Voigt. So lasse man die Pflegeeltern allein, ergänzt Lena Meister. „Die denken, sie haben etwas falsch gemacht.“ Oder sie werden für Helikopter-Eltern gehalten, weil sie mit Blick auf die Unzulänglichkeiten der Kinder besonders behütend sind, ihnen abnehmen, was Gleichaltrige schon selbst können.

„„Es weint eigentlich immer einer.““

Lena Meister, Leiterin des FASD-Zentrums Essen über die Selbsthilfegruppe für Eltern

Trotz zerplatzter Lebensträume und täglicher Frustration gäben die wenigsten Pflegeeltern auf: „Das sind ja ihre Herzenskinder“, sagt Lena Meister. Doch die meisten der 15 Familien in der Einzelförderung und der etwa 30 Elternteile in der Selbsthilfegruppe hätten ihr Belastungslimit erreicht: „Es weint eigentlich immer einer“, sagt sie über die Treffen. Es gebe Streit, Ehekrisen und Geschwisterkinder, die ausziehen wollen, weil sie den häuslichen Stress nicht mehr aushalten. Zwei Dinge seien für die Eltern besonders wichtig: „Sie müssen wissen, dass sie nicht schuld sind am Scheitern der Kinder.“ Und sie brauchen Entlastung, Momente, die sie für sich oder als Paar genießen können.“

FASD-Zentrum: In der Gruppe werden die kleinen Erfolge gefeiert

Den Kindern wiederum, die ja merken, dass in ihrem Leben viel schiefläuft, gebe man Strategien, wie sie besser durch den Alltag kommen: Sei es nur, dass sie den sortierten Kleiderschrank fotografieren, damit sie beim Aufräumen wissen, wie er aussehen sollte. „Wir möchten, dass sie die größtmögliche Selbständigkeit erreichen.“ In der Gruppe mit anderen Betroffenen erlebten sie Freude, Lachen, Gelöstheit, bei Austausch oder Schnitzeljagd. Wie sagt Meister: „Wir machen keinen Druck, wir feiern die kleinen Erfolge.“

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