Essen. Vor 80 Jahren, am 5. März 1943, begann mit dem ersten Großangriff die systematische Zerstörung Essens. So erlebte ein Zeitzeuge die Bombennacht.
- Regelmäßig werden in Essen Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden.
- Dieser Artikel ist zum ersten Mal im März 2023 erschienen, aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir ihn hier erneut.
Dieses Dröhnen hunderter Flugzeugmotoren – Paul Werner konnte es bis ans Ende seines langen Lebens im Jahr 2018 nicht vergessen. 17 Jahre war er alt, Schüler des damals wie heute mitten in der Innenstadt gelegenen Burggymnasiums, und in jener Nacht vom 5. auf den 6. März 1943 hält er die Brandwache im Schulgebäude. Die älteren Schüler waren verpflichtet, aufzupassen, dass durch mögliche Angriffe kein größerer Schaden entstand.
Das war nicht ungefährlich, aber dank einer Brandschutzausbildung noch ein halbwegs kalkulierbares Risiko – bis diese Nacht vor genau 80 Jahren eine völlig neue Dimension des Bombenkriegs zeigte.
Zweiter Weltkrieg: Angriffe auf Essen begannen ab dem Jahr 1941
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Ab 1941 begannen die Angriffe auf Essen, das als Krupp-Stadt wegen der Rüstungsproduktion, aber auch aus symbolischen Gründen, von besonderer Bedeutung war für die deutschen Kriegsgegner. Die ersten nadelstichartigen Bombardierungen mit noch wenigen Flugzeugen erregten zwar Aufsehen, töteten auch Zivilisten, richteten aber im Stadtbild noch relativ wenig Schaden an.
Das sollte nun anders werden. Gegen 20.30 Uhr am Abend des 5. März, einem Freitag, kommen die britischen Kampfflugzeuge im großen Pulk, angestrahlt von den Scheinwerfern der deutschen Flugabwehr, die rings um Essen stationiert ist. „Mir war sofort klar, dass es weit mehr Bomber waren als je zuvor“, so Paul Werner, der sich vor zehn Jahren dieser Zeitung als Zeitzeuge zur Verfügung stellte.
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Die Royal Air Force kommt nicht nur in großer Stärke, sie bringt auch eine neue Einsatztaktik mit, die die maximale Zerstörung der Städte durch einen ausgeklügelten Bomben-Mix und durch die Kraft des Feuers beabsichtigt. Die gerade eben erst entwickelte Radartechnik hilft dabei. Zwar sollten auch die Krupp-Fabriken getroffen werden, vor allem aber die Essener Innenstadt.
Markierungs-Flugzeuge, so genannte Pfadfinder, hatten kurz vor dem Angriff das Geviert der Innenstadt abgesteckt, in das die Besatzungen ihre Bomben, wenn irgend möglich werfen sollten. „Es war das erste Mal, dass ich diese Leuchtsäulen sah, die wir Christbäume nannten“, erzählte Paul Werner. Kaum jemand in Essen ahnt etwas von der vergleichsweise großen Präzision, mit der die rund 100 Luftminen, 1000 Sprengbomben 122.000 Stabbrandbomben und 17.000 Phosphorkanister ins Ziel gebracht werden.
Über dem Essener Stadtkern bricht das Inferno herein
„Als ich den Alarm hörte, bin ich erst auf den Dachboden, habe meine Löschausrüstung geholt“, erinnerte sich Paul Werner. Während der 17-Jährige schwer beladen durchs Treppenhaus nach unten hastet, bricht über den Stadtkern schon das Inferno herein.
„Im Burggymnasium gab es einen Luftschutzkeller, da bin ich erst mal rein.“ Auch 25 Menschen aus den umliegenden Häusern haben es rechtzeitig geschafft. „Die Innenstadt und das Areal der heutigen Schützenbahn waren geschlossene Wohngebiete mit vielen alten Häusern“, sagte Werner. Übrig bleiben wird von dieser uralten, kleinteiligen Struktur nach dieser Nacht so gut wie nichts, nur massive Gebäude haben eine Chance. Nach 40 Minuten drehen die Bomber ab, aber damit ist die Lebensgefahr noch lange nicht vorbei – für die meisten betroffenen Essener beginnt sie erst.
Wer nach dem Bomben-Regen im Keller bleibt, der erstickt, verglüht, verbrennt
Denn wer in den Kellern bleibt im verständlichen Glauben, hier sei der Schutz größer, ist oft verloren – er erstickt, verglüht, verbrennt. „Ich rief: ‘Raus, raus. Wir müssen raus, sonst werden wir sterben.’ So hatte ich es in der Ausbildung gelernt.“ Nicht jeder mochte zunächst folgen, aber der junge Paul Werner setzte sich durch.
Der erste Schritt auf den Burgplatz – ein gespenstisches Bild: „Die Stabbrandbomben steckten wie Fackeln im Boden.“ Die uralte Münsterkirche gegenüber – schon in hellen Flammen. Zum Hauptbahnhof! – das war Werners Plan. Weg von den Häusern mit viel altem Holz, weg von den eng bebauten Vierteln, die brannten wie Zunder. Mit feuchten Tüchern notdürftig geschützt, eilt die Gruppe über die Kettwiger Straße nach Süden. „Dort brannten erst die Dächer, so dass wir passieren konnten.“
Essen erlebt in dieser Nacht den berüchtigten Feuersturm
Noch! Schnell frisst sich das Feuer, angeheizt durch den unlöschbaren Phosphor, in die unteren Etagen durch, aus Häusern werden rasch riesige Fackeln, die sich vereinigen mit dem Feuer des Nebenhauses, als Nächstes steht der Block in Flammen und schließlich das ganze Stadtviertel. Der berüchtigte Feuersturm – auch Essen erlebt ihn in dieser Nacht. „Eine brennende Stadt saugt den Sauerstoff ein, dieses Heulen, der starke, heiße Wind – Sie können sich das nicht vorstellen“, beschrieb Paul Werner die Katastrophe. Zeitzeugen, die in höher gelegenen Vierteln leben, etwa rund um den Wasserturm am Steeler Berg, berichten später, dass die Innenstadt ein einziges Flammenmeer gewesen sei.
Werner führt die Gruppe, die im Keller des Burggymnasiums Zuflucht gesucht hatte, zur Freiheit, wo das Gebäude des Ruhrkohlensyndikats steht, das spätere Ruhrkohle-Haus. Er hat noch immer seine Löschausrüstung auf dem Buckel. Er geht in das nicht allzu schwer getroffene massive Gebäude und löscht, was er kann. Ein Schreiben der Direktion, das er stets in Ehren hielt, spricht ihm für diese Rettungstat großen Dank aus.
461 Essener starben allein beim ersten Großangriff – es hätten leicht noch viel mehr sein können
Im Rückblick ist Paul Werner stolz, dass er funktionierte, dass er trotz seiner erst 17 Jahre wohl Menschenleben rettete. Viele andere haben nicht so viel Glück, finden keinen Retter, sind alt, schwach oder zu schwer verletzt, um sich selbst helfen zu können. 461 Essener sterben an jenem 5. März, 1593 wurden verletzt. Und es sollte erst der Anfang sein. 1943 folgte Angriff auf Angriff, allein in den Monaten März, April, Mai und Juni 1943 fielen insgesamt 4251 Essener den Luftangriffen zum Opfer. Bei Kriegsende beklagte Essen 6384 zivile Tote durch Bombardierungen – ungefähr jeder hundertste Einwohner.
Und so makaber das klingt: Dies war noch wenig. Bei einem einzigen Angriff auf Hamburg 1943 starben 34.000 Menschen, auch viele mittlere Städte hatten in absoluten Zahlen deutlich mehr Tote zu beklagen. Der Grund: Als Industriezentrum erhielt Essen bevorzugt Bunker, was die Zahl der Opfer geringer werden ließ, als es der Zerstörungsgrad der Stadt vermuten lassen würde.
Von 185.000 Wohnungen waren 1945 nur noch 6300 vollkommen unversehrt
Denn dieser war gewaltig. Bereits beim ersten Großangriff wurden auch die umliegenden Stadtteile in Mitleidenschaft gezogen, die später noch weit gezielter bombardiert wurden, weil es im Stadtkern nichts mehr zu zerstören gab. Am schwersten traf es Holsterhausen, das nach 1945 ein komplettes Neubaugebiet war. Kaum ein Wohnhaus hatte unbeschadet überlebt, die Nähe zu den Krupp-Fabriken erwies sich als verhängnisvoll.
Die Gesamtbilanz: Von den 185.300 Essener Vorkriegswohnungen waren bei Kriegsende 64.000 total zerstört und 36.000 schwer beschädigt. Vollkommen unversehrt geblieben waren nur ganze 6300 Wohnungen, die meisten in den ländlichen Vororten. Der Stadtkern war zu 93 Prozent vernichtet, in einem fünf Kilometer großen Radius herum gab es praktisch kein unbeschädigtes Haus. Die Aufbauleistung in der Nachkriegszeit mutet bei diesen Zahlen sensationell an – und mancher Fehler erscheint da vielleicht auch verzeihlich. Und man versteht, warum es bis heute so viele Blindgänger gibt.
Zwei Monate nach dem 5. März 1943 wird Paul Werner zur Wehrmacht eingezogen, erleidet im Osten zweimal schwere Verwundungen. Er wird später Jurist und hat sein Leben gelebt. Aber die Nacht, in der seine Heimatstadt unterging, hat er nie vergessen. „Das ist mein schwerstes Trauma.“
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