Elten/Siegen. Mordprozess in Siegen kurz vor Ende: Das Grinsen des Angeklagten verschwand. Verteidiger bringt bislang unveröffentlichte Augenzeugen-Aussagen ins Spiel.

Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft, die Verteidigung eine zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe: Im Mordprozess vor dem Landgericht Siegen, in dem es um die in Elten nahe der A3 tot aufgefundene 23-Jährige geht, sind am Montag die Plädoyers gehalten worden. Für Überraschung zumindest auf den Zuschauerrängen sorgte einmal mehr Verteidiger Andreas Trode: Der Anwalt zitierte aus der bislang nicht öffentlichen richterlichen Vernehmung der Tochter des Angeklagten, die die Tat beobachtete. Für Trode stützen diese Aussagen die Theorie eines Mit- oder sogar anderen Haupttäters. Am Mittwoch, 7. August, 14 Uhr, wird die 1. Große Strafkammer das Urteil verkünden.

29 Stiche und Schnitte

Für Staatsanwältin Vanessa Zimmermann und auch die Nebenklage ist die Sache nach der Beweisaufnahme eindeutig: Die Tat hat sich so zugetragen wie in der Anklageschrift festgehalten. Der Angeklagte und die Mutter seiner Kinder fuhren in der Tatnacht von Siegen nach Holland, mit im Auto die beiden kleinen Töchter, damals wenige Wochen und vier Jahre alt. Außerdem mit im gemieteten BMW: Der Zeuge, der den Wagen zurückfahren sollte.

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Es ging kurz über die Grenze und direkt wieder zurück nach Deutschland, auf einen Feldweg in Emmerich-Elten. Die Erwachsenen stiegen aus, rauchten eine Zigarette, es kam demnach zum Streit über andere sexuelle Kontakte des Ex-Paars. Als der Angeklagte die Frau aufforderte, mit dem Zeugen intim zu werden und sie dem nachkam, zog er unbemerkt von ihr ein Messer, schnitt ihr von hinten in den Hals. Die 23-Jährige wehrte sich, er drang demnach weiter auf sie ein, 29 Stiche und Schnitte wird der Obduzent am Ende zählen. Welche tödlich war: Lässt sich nicht sagen. Beide Halsschlagadern wurden jedenfalls durchschnitten. „Ihr Kopf war letztlich fast vollständig abgetrennt“, so die Anklägerin.

Siegen: Mordmerkmal Heimtücke ja – aber keine niederen Beweggründe, also kein Ehrenmord?

Der Zeuge und die Vierjährige beobachteten das Geschehen. Sie fuhren zurück nach Siegen, luden die Kinder bei der Familie ab, reinigten das Auto und vergruben Messer und Handyteile der Getöteten in Eiserfeld. Noch am Mittag wurde der Angeklagte bei seinen Eltern in Netphen festgenommen.

„Mein Mandant hat nicht nichts gemacht. Aber was genau hat er gemacht?“

Andreas Trode
Verteidiger

Die Aussage des Zeugen sei glaubwürdig und belastbar, so Staatsanwältin Zimmermann zur Beweiswürdigung. Er habe sich durchaus selbst belastet; nicht versucht, eigenes Fehlverhalten zu verschleiern, sich um eine möglichst vollständige Darstellung bemüht. Seine Schilderung werde von den Sachverständigen gestützt. Dass der Angeklagte wohl Linkshänder ist, spiele keine Rolle: Während des Angriffs hätten Täter und Opfer die Position gewechselt, auch das Messer sei wohl von einer Hand in die andere gewandert, was zum Spurenbild passe.

Vor dem Landgericht Siegen wird am Mittwoch das Urteil erwartet.
Vor dem Landgericht Siegen wird am Mittwoch das Urteil erwartet. © FUNKE Foto Services | Konrad Flintrop

Die Staatsanwältin hält das Mordmerkmal der Heimtücke für erwiesen: Das Opfer war arglos, konnte den Täter nicht sehen, als er das erste Mal zustach. Niedere Beweggründe hingegen seien nicht zweifelsfrei feststellbar. Zwar hatte der Angeklagte wohl davon gesprochen, seine Ehre reingewaschen zu haben, als Merkmal für einen sogenannten Ehrenmord reiche das aber nicht. Es könne auch zur Tat gekommen sein wegen eines eskalierten Streits – die beiden hatten laut zahlreicher Aussagen eine zunehmend von Gewalt, Drohungen und Streitereien geprägte Beziehung geführt, bis sich die junge Frau schließlich von ihm trennte und auch wegen Vergewaltigung bei der Polizei anzeigte.

Landgericht Siegen: Zweifel am Mordmerkmal Heimtücke – war das Opfer wirklich arglos?

Zu Anfang folgt der Angeklagte dem Plädoyer der Staatsanwältin noch über längere Strecken mit einem Grinsen. Als auch die Nebenklage lebenslänglich fordert, verschwindet es aus seinem Gesicht.

„Ihr Kopf war letztlich fast vollständig abgetrennt.“

Vanessa Zimmermann
Staatsanwältin

Verteidiger Andreas Trode bezweifelt in seinem Plädoyer die Arglosigkeit des Opfers und damit das Mordmerkmal Heimtücke. Die Beziehung habe sich in den Monaten vor der Tat immer weiter zugespitzt, mehrmals soll der Angeklagte die junge Frau mit dem Tod bedroht, auch mit Messern herumgefuchtelt haben. Mit dieser Vorgeschichte mitten in der Nacht mit einem fremden Mann im Auto nach Holland zu fahren, dann direkt wieder umzudrehen und auf einem Waldweg zu halten – „man kann doch nicht allen Ernstes davon ausgehen, dass die Frau völlig arglos ist!“ Das gelte es zu berücksichtigen – letztlich wisse man es nicht.

Zahlreiche Zeugen in Schleuseprozess verwickelt

Vor allem aber hat Trode erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen. Der habe bei der Polizei, bei der Tatortrekonstruktion und im Gericht unterschiedliche Dinge berichtet, teils in erheblichem Widerspruch zueinander. „Der Wert des Zeugen ist miserabel“, so Trode – auch weil ihn die Polizei am Tatort einen Joint habe rauchen lassen, damit er weiter aussagt. Auf diesen Mann stütze die Anklage ihre gesamte Argumentation.

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Alle anderen Zeugen, die vor der Kammer erschienen, hätten von der Tat nur durch Hörensagen berichten können. Sein Mandant, der Angeklagte, „hat nicht nichts gemacht“, so Trode, „aber was genau hat er gemacht?“ Sehr seltsam komme ihm die Verstrickung zahlreicher Zeugen in eine angeblich geplante Geiselnahme und den zeitweise parallel geführten Schleuserprozess vor – womöglich habe man seinen Mandanten und sein unliebsames Wissen auf diese Weise „loswerden“ wollen.

Mordprozess im Landgericht Siegen: Verteidiger bringt zweiten Täter ins Spiel

Die Aussage der zweiten Augenzeugin sei kaum gewürdigt worden: Gegenüber der Vernehmungsrichterin hatte die Tochter sinngemäß berichtet, dass Mama und Papa sich gestritten hätten, dass auch die Männer sich gestritten hätten – und dass der Papa die Mama „gefangen“ habe. Er habe die Mama festgehalten, der „Onkel hat die Mama totgemacht“, zitiert Trode aus dem Vernehmungsprotokoll: Das sei eine Aussage, die man nicht einfach so hinnehmen könne.

Von sich aus habe das Kind bestätigt, dass auch der andere Mann („Onkel“) das Messer in der Hand gehabt habe. Das habe sie gesehen, weil sie sich aus ihrem Kindersitz abgeschnallt habe und nach ihrer Mama sehen wollte. Familie, Vormünderin und auch die Gutachterin hatten nichts von entsprechenden Aussagen des Kindes berichtet – und der Hauptbelastungszeuge natürlich auch nicht. Der sei zudem auf einem Video zu sehen, wie er, zurück in Siegen, den BMW vor der Rückgabe mit einer Sorgfalt und Akribie sauber mache, die zumindest sehr auffällig sei.

Verteidiger liegt formell bei Freispruch, aber beantragt auch begrenzte Freiheitsstrafe

In Summe habe er begründete Zweifel, dass es sich wirklich so abgespielt habe, wie es der Zeuge schilderte, sagt Andreas Trode. Wenn man die Höchststrafe beantrage, müsse Vermutung zur Gewissheit werden. Die Aussage der Tochter würde – im Zweifel für den Angeklagten – nicht für eine Verurteilung reichen. Aber er sei geeignet, den Zeugen in Frage zu stellen. „Diese Aussagen lassen sich nicht übereinanderbringen. Die Aussage des Kindes ist richtig, richtig, wichtig.“ Er beantragt eine „zeitige“, also begrenzte Freiheitsstrafe und formell – da sein Mandant die Tat nach wie vor bestreitet, ansonsten aber von die Aussage verweigert – Freispruch.