Essen. Bedroht, beleidigt, verprügelt: Gewalt gegen Lehrkräfte wird in NRW zunehmend zum Problem. Betroffene Lehrer erzählen, was sie erlebt haben.

Astrid Pradella unterrichtete ihre fünfte Klasse gerade in Englisch, als die Tür aufging. Eine ihrer Schülerinnen stand vor dem Klassenraum, hinter ihr ihr Vater. „Nein, tut mir leid. Wir haben die Regel, dass Kinder, die zu spät kommen, im Bistro lernen müssen“, sagte Pradella. Der Vater, so erzählt sie es, ignorierte sie, schubste seine Tochter in den Raum. Pradella versuchte, ihr den Zugang zu verwehren. Da ging der große, stämmige Mann auf sie zu. Er hob seinen Arm, holte zum Schlag aus. Pradella konnte ihm gerade noch ausweichen. Mit Hilfe der Schüler gelang es ihr, die Tür zu schließen.

Beleidigt, bedroht, geschlagen: Gewalt gegen Lehrkräfte wird in Nordrhein-Westfalen zunehmend zum Problem. Allein im Jahr 2022 haben laut Innenministerium fast 400 Pädagogen Anzeige erstattet. In 164 Fällen soll es zu einfacher Körperverletzung gekommen sein, in 55 Fällen sogar zu gefährlicher Körperverletzung.

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Viele Lehrkräfte zeigen Vorfälle jedoch gar nicht erst an, das Dunkelfeld dürfte deutlich größer sein. Eine Umfrage des Philologenverbands NRW zeigt: Jede zweite Lehrkraft an einem Gymnasium hat bereits Gewalt erfahren. An den Gesamtschulen sind es sogar 76 Prozent. Lehrkräfte berichten dieser Redaktion, dass sie Elternsprechtage nur noch in Doppelbesetzung durchführen. Dass sie bestimmten Schülern in der Pause aus dem Weg gehen. Dass Eltern auf dem Schulhof auftauchen und ihnen mit Gewalt drohen, wenn ihnen eine Note nicht gefällt.

Studie soll Gewalttaten gegen Lehrkräfte in NRW erfassen

Das Schulministerium in NRW ringt allerdings weiter damit, Gewalttaten gegen Lehrkräfte zu erfassen. In einer aktuellen Sitzung des Schulausschusses wurde kein Fortschritt erzielt. Bereits im April hatte Ministerin Dorothee Feller (CDU) eine Dunkelfelderhebung in Auftrag gegeben. Über den aktuellen Stand der Studie, heißt es aus dem Ministerium, würden allerdings bisher keine weiteren Informationen vorliegen – zum Ärger vieler Lehrerinnen und Lehrer.

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„Das Gewaltproblem wird immer noch unterschätzt“, sagt Astrid Pradella. Dass die Realschullehrerin von einem Vater angegriffen wurde, ist nun schon einige Jahre her. Trotzdem wird ihre Stimme laut und ihre Sätze schneller, wenn sie von dem Vorfall erzählt. „In der Schule habe ich mir erstmal nichts anmerken lassen. Aber sobald ich zuhause war, kam alles hoch. Ich habe nur noch geheult“, erinnert sich die 64-Jährige.

Sie ging zum Arzt, wurde krankgeschrieben. Nach einer Woche kehrte sie zurück in die Schule. „Ich war eigentlich noch gar nicht bereit, wieder zu unterrichten. Aber ich wollte die Klasse nicht im Stich lassen. Für sie war es ja auch ein Schock.“

Streit zwischen Lehrer und Vater landet in NRW vor Gericht

Laut Pradella würden Schulleitung und Bezirksregierungen das Problem oft bewusst herunterspielen. Sie fürchteten um den Ruf der Schule. Als Bezirksvorsitzende des Verbands Lehrer NRW in Detmold hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, das zu ändern. Sie berät und unterstützt Lehrkräfte, die Opfer von Gewalt werden, bei der Aufarbeitung und bei rechtlichen Fragen.

Ein Fall ist ihr dabei besonders in Erinnerung geblieben. Ein junger Kollege habe einer Schülerin das Handy weggenommen. Das Mädchen habe ihn daraufhin bedroht und seinen Vater informiert, der sofort zur Schule gefahren sei, erzählt Pradella. So dürfe niemand mit seiner Tochter umgehen, er würde dafür büßen, habe der Vater gedroht. Der Lehrer habe Anzeige erstattet, der Vater Gegenanzeige.

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Vor Gericht habe sich der Lehrer dann allein der Familie des Mädchens stellen müssen, ohne die Unterstützung von Schulleitung oder Bezirksregierung. „Das alles hat ihn traumatisiert. Er ist noch nicht wieder in den Dienst zurückgekehrt“, sagt Pradella.

Lehrerin will Streit unter Schülern schlichten – und wird zusammengeschlagen

Oft gehe die Gewalt aber auch von den Schülern selbst aus. Ein Lehrer berichtet etwa, dass seine junge Kollegin von einem Jungen zusammengeschlagen wurde, als sie einen Streit zwischen Schülern schlichten wollte. Insbesondere seit der Corona-Pandemie sei eine spürbare Veränderung im Umgang zu erkennen, erzählen Lehrkräfte.

„,Ey Alte!‘ und andere Respektlosigkeiten sind ja fast schon zum normalen Umgangston geworden“, sagt Stefanie Neumann. Die 56-Jährige berät für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Betroffene. Wie diese sich fühlen, weiß sie aus eigener Erfahrung. Als sie noch an einer Schule unterrichtete, schrie ein Schüler ihr so laut ins Ohr, dass sie ein Knalltrauma erlitt. „Und es ging sogar so weit, dass ich von einem Schüler angespuckt wurde“, erinnert sich Neumann.

Wie viele andere fordert sie, dass Gewalt gegen Lehrkräfte ernster genommen wird. Die in Auftrag gegebene Dunkelfeldstudie sei ein wichtiger Schritt. Doch es müsse auch darum gehen, Lehrerinnen und Lehrer besser auf den Ernstfall vorzubereiten. Nur so könne Schule wieder zu einem sicheren Ort werden.

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