Dortmund. Von Theater bis Installationen: Das Favoriten Festival in Dortmund startet mit einem modernen Blick auf Iphigenie und ermutigt, „Nein“ zu sagen.
König Agamemnon soll seine Tochter Iphigenie opfern, um den Krieg gegen Troja zu gewinnen. Die Tragödie „Iphigenie in Aulis“ wird seit tausenden Jahren erzählt. Das Theaterstück „Daughters of the Future“ von dem Düsseldorfer Theaterkollektiv Waltraud900 eröffnet am Donnerstag, 5. September, das Favoriten-Festivals im Kulturhaus Depot Dortmund mit einem Gegenentwurf zur Geschichte. Es zeichnet eine Utopie der Töchter der Zukunft, die sich mit einem „Nein“ gegen gesellschaftliche Erwartungen stellen.
Das älteste Treffen der freien Szene findet unter künstlerischer Leitung von Anne Mahlow, Margo Zālīte und Sina-Marie Schneller bis zum 15. September statt. An verschiedenen Orten in Dortmund hinterfragen elf Performances, Installationen, Tanz- und Theaterstücke Normalitäten und rütteln an Machtverhältnissen. Mit Impulsen zum Lernen und Verlernen geben sie Perspektiven auf eine gerechtere Welt.
Favoriten Festival in Dortmund: Eröffnet durch das Theaterstück „Daughters of The Future“
In dem Theaterstück „Daughters of The Future“ begleitet das Publikum den Weg von Iphigenie, die von sieben Darstellerinnen gespielt wird. Die Iphigenies reflektieren darüber, wie sie familiäre und gesellschaftliche Erwartungen formen; wie sie lernen, sich zu verhalten, zu denken und zu fühlen. Was sie nicht lernen, ist „Nein“ zu sagen und ihre eigenen Träume zu leben. Iphigenie steht stellvertretend für alle Töchter.
Der Tochter gegenüber: Vater Agamemnon. Zugespitzt wird seine autoritäre Macht durch den Chor der vier Personen, die ihn verkörpern. „Du musst Papa helfen“, fordert der Vater die Hochzeit der Tochter mit dem Helden Achilleus. Nicht zuletzt aus Liebe und Ehrfurcht vor ihrem Vater unterdrücken die Iphigenies ihre kritischen Stimmen und sind schließlich zur Hochzeit bereit. Doch es ist ein Vorwand, um Iphigenie zu töten. Das Opfer muss sein, für den Frieden des Vaterlandes, bestimmt Agamemnon. Selbst Mutter Klytaimnestra, die mit einer fulminanten Rap-Einlage die Bühne wie einen Boxkampf betritt, ist ohnmächtig gegenüber dem Willen des Vaters.
Frauen sollen zwar etwas ändern, aber bitte nicht zu laut, nicht zu radikal. Ihnen bleibt, zu warten, bis sie von Anderen gerettet werden. Doch wollen sie darauf vertrauen? In Iphigenies Fall wäre das zu spät. Die Töchter sind machtlos. In der Not erforschen sie ihre Ängste, Sorgen und Träume – symbolisch dargestellt durch ein Zelt aus weißem Stoff.
Ein einzelnes „Nein“ verhallt, ein Chor kann nicht überhört werden
Doch was ist, wenn sie die Norm sprengen? Das Tuch wird zu einer Leinwand. Zu sehen sind Filme von Frauen aus dem Iran, die sich die Haare abschneiden und damit ihren Widerstand gegen das System ausdrücken. Zum Schluss ein Bild von Jina Mahsa Amini. Stille.
Durchbrochen werden die Bilder von der väterlichen Stimme: „An dir liegt es, das Leid zu stoppen“, gefolgt von lauter werdenden Vorwürfen („Stell dich nicht so an, lächel doch mal“), unter denen die Tochter zu einer Marionette wird – und dann zerbricht. „Warum soll ich mich opfern, für eine ungewisse Zukunft?“, fragt sie. Dann Trommelschläge. Und die Einsicht: Sie gehört der Gesellschaft. Wut staut sich auf – die Quelle des Widerstandes. Ein einzelnes „Nein“ mag verhallen, doch im Kollektiv übertönt der Chor der Töchter jenen des Vaters – und kann nicht länger missachtet werden.
Mit Humor, Charme und einer erfrischenden Ehrlichkeit dekonstruiert das Ensemble Normen von Weiblichkeit und erkämpft sich einen Weg aus den Fesseln der Gesellschaft zu einem selbstbestimmten Leben. „Die einzige Grenze, die ich kennen werde, sind die Grenzen der Physik“, schließt eine siebenjährige Darstellerin – die Tochter der Zukunft – das Stück.
Favoriten Festival in Dortmund mit elf Performances, Installationen, Tanz- und Theaterstücken
„Daughters of The Future“ weckt die Neugierde auf das restliche Festivalprogramm. Darunter das Stück „Deutschland. Ein Labermärchen“ von Julia Nitschke und Caroline Kapp, das im Rahmen der „West-Ost-Werkstatt spielt und hinterfragt, wie der Fußballsommer 2006 den Nationalstolz wieder massentauglich werden ließ.
Die Fotoausstellung „Lost Fisches and Praying Mantis“ von Calvin Hein und Kay Kwabia steht unter dem Motto, Distanzen zu ver(lernen). In der Parzelle im Depot Dortmund erlebt das Publikum, wie die beiden Fotografen ihre Vorstellungen von Identität und Zugehörigkeit erforschen.
Am zweiten Festivalwochende gibt es Performances, Filme, Podiumsdiskussionen, Workshops und ein antirassistisches Fußballturnier, um den Dialog über Kultur und Demokratie zu stärken. „Die Kunst und Kultur ist ein Motor der Veränderung“, betont Michael Reitemeyer vom NRW-Ministerium für Kultur und Wissenschaft bei seiner Eröffnungsrede und lädt dazu ein, die Kunst des Zuhörens als Normalität zu erlernen. Damit Festivals wie dieses weiter bestehen bleiben, schicken Stadtkämmerer Jörg Stüdemann und Christian Esch, Direktor des NRW Kultursekretariats, auch einen Appell nach Berlin, die freie Kunst- und Kulturszene zu unterstützen.
Das komplette Festivalprogramm mit Daten und Spielorten sowie Eintrittskarten gibt es hier.
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