Essen. Sarah Jäger: „Und die Welt, sie fliegt hoch“, Sina Scherzant: „Am Tag des Weltuntergangs“, Dietlind Falk: „No regrets“, Necati Öziri: „Vatermal“.
Am 11. September wird im Schloss Horst, Gelsenkirchen, bekanntgegeben, wer den Literaturpreis Ruhr 2024 gewinnt. Drei Autorinnen und ein Autor konkurrieren, ihre Bücher sind geprägt von Jugendlichkeit, Jugendkultur, vom Aufwachsen und Sich-Durchschlagen in einer widerständigen Welt. Hier ein kurzer Überblick
Sarah Jäger: „Und die Welt, sie fliegt hoch“
Ava und Juri, waren zusammen in der Grundschule, sie war in der dritten Klasse der „komische Vogel“, er war der Astronaut. Ava hat eine ausufernde Fantasie und erzählt Geschichten von einer Giraffe, die sie aus dem Zoo entführt hat, die aber doch nur ein Alpaka war, das aber jetzt in ihrem Kleiderschrank wohnt. Ava hat Hausarrest und will lange nicht erzählen, warum. Umso wichtiger wird ihr das Gespräch (sie schickt Sprachnachrichten, er schreibt) mit Juri, dessen Handynummer sie zufällig beim Aufräumen in ihrem Zimmer gefunden hat.
Es geht im Ping-Pong-Modus hin und her, man versteht schnell, dass Avas Worte auf den linken Seiten stehen und Juris rechts. Zumal die Bilder, die Sarah Maus zu Sarah Jägers Text gemalt hat (von Ava als schräger Vogel und von Juri als weltenverlorener Astronaut), nicht etwa die Handlung illustrieren, sondern die Stimmung, die gerade herrscht, was sich zum Ende des Buchs hin noch furios steigert. Es platzt nämlich noch eine Bombe.
Preis-Gala auf Schloss Horst
Der Hauptpreis des Literaturpreises Ruhr ist mit 15.000 Euro dotiert. In Frage kamen Bücher, die zwischen dem 1. Mai 2023 und dem 30. April 2024 erschienen sind. Das waren 56 literarische Werke unterschiedlicher Genres. Der Jury gehörten an: Cathrin Brackmann (WDR-Moderatorin), Prof. Dr. Peter Goßens (Ruhr-Universität Bochum, Literaturwissenschaft), Murat Kayı (Musiker und Autor), Patrick Musial (Buchhändler) sowie Christa Becker-Lettow (SPD, Ruhrparlament).
Wer den Preis gewinnt, wird am 11. September im Rahmen einer Gala auf Schloss Horst bekanntgegeben.
Im Gespräch der beiden geht es viel um Joghurteis mit Himbeersoße, Ferien im Freibad und erste Küsse. Aber der Turbo dieser Geschichte sind die kleinen Wort-Schritte, mit denen diese beiden himmelweit verschiedenen Menschen einander näherkommen. Wer da nicht wünscht, dass es weiter und weiter geht, braucht sein Herz schon auch nicht mehr von Ärzten behandeln zu lassen, da reicht ein Steinmetz.
(Rotfuchs, 272 S., 20 €.)
Sina Scherzant: „Am Tag des Weltuntergangs fraß der Wolf die Sonne“
Coming of Age sagt man heute, Entwicklungs- oder Bildungsroman hieß das früher, aber es bleibt dasselbe Thema vom Erwachsenwerden vom „Wilhelm Meister“ über den „Grünen Heinrich“ bis, ja, bis Sina Scherzants „Am Tag des Weltuntergangs fraß der Wolf die Sonne“. Schon der alte Hegel spottete über das Muster, dem zufolge man sich am Anfang noch die Hörner abstoße und am Ende doch ein Philister werde wie alle anderen auch. Katharina ist Scheidungskind, wurde umgezogen vom westfälischen Bad Driburg in den (freundlich gesagt) unspektakulären Dortmunder Stadtteil Hombruch. Am dortigen „Nullachtfünfzehn-Gymnasium“ lernt sie nicht nur die Deo-süchtige Sophie und ihre Clique kennen, sondern irgendwann auch Sophies Mutter Angelica, allseits „Lica“ genannt. Die Späthippie-Frau, die in Hombruch in etwa so gut hinpasst wie ein Schmetterling aufs Katasteramt.
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Sie wird für Katharina zur Übergangsfigur, wie die Psychologie das etwas zu sehr verdinglicht beschreibt: Zur Mischung aus Idol und Mentorin, die normalerweise die Brücke zwischen Elternanbetung und Selbstwerdung bildet – bei manchen sind das Popstars oder coole Onkel, bei anderen ist es vielleicht die Lehrerin oder junge Kneipenwirt. Aber Katharina ist ja längst erwachsen, eine „Lebenshandwerkerin“, die erst versucht, die Ehe ihrer Eltern zu retten und dann ihre Schwester vorm Verzweifeln zu beschützen, die auch in der Schulklasse nur darauf bedacht ist, dass es allen oder möglichst vielen gut geht. Ein Mensch, der permanent als Puffer für alle anderen handelt. „Lica“ bringt die zahnradgleiche „Katha“ dazu, nach ihren eigenen Bedürfnissen zu fragen.
Sina Scherzants Ton ist ironisch-selbstdistanziert, es entsteht nebenher ein atmosphärisches Porträt der frühen und späten Nullerjahre, in dem, ganz zeitgemäß, die große Welt draußen bleibt. Die Stärke des Romans sind seine ungewöhnlichen und darum oft treffenden Bilder. Ein straffendes Lektorat hätte freilich nicht nur Schäden angerichtet.
(Park Ullstein, 368 S., 23 €.)
Dietlind Falk: „No regrets“
Wenn alle literarischen Talente aus dem Ruhrgebiet weggehen und nur ihr Debüt der Region widmen, wird das Revier bald zum literarischen Entwicklungsland. Andersherum macht es immerhin Dietlind Falk, die für ihren Tattoostudio-Roman wohl kaum ein besseres Setting als den Pott finden konnte. „Hänk“ (wir waren schon immer eine Spitznamen-Hochburg) und sein Kumpel Muddy haben schon tätowiert, als die Motive noch „Arschgeweih“ hießen, „Hänk“ war Zivi in dem Knast, in dem Muddy einsaß.
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Beide sind Könner ihres Fachs, aber nicht nur bei der Einrichtung ihres Tattoo-Studios ist die Zeit stehengeblieben, die beiden sind längst Freaks und „der Empfangsbereich sah aus wie die Kulisse einer Bud-Spencer-Prügelei“. Man merkt schon: szenesicherer Jargon. Die Typen sind so originell wie authentisch gebaut, die Geschichte hat einen straffen, wenn auch semitransparenten roten Faden. Die junge Luz mit peruanischen Vorfahren bringt frischen Wind in den Laden, den Hilfstätowierer Rudi zum Coming Out und Muddy zu einer selbstlosen Heldentat, die er sich gern erspart hätte.
(Hanserblau, 224 S., 22 €.)
Necati Öziri: „Vatermal“
Mit sehr viel Abwechslung im Ton erzählt Necati Öziri in seinem Roman „Vatermal“ vom Alleingelassensein eines türkischen Jungen, der im Ruhrgebiet aufwächst: Der Vater ist in die Türkei abgehauen; die Mutter, die versucht, „deutscher als jede Deutsche“ zu sein, ertränkt ihre Kränkungen in Alkohol. Sohn Arda hängt in Jungs-Cliquen ab, eine erste Liebe regt ihn auf, er verkauft Drogen. Und nicht erst beim Einbürgerungsversuch gerinnt der alltägliche Rassismus zu glasklaren Worten und Bildern: Unterm Klischee, mit dem das friedliche Zusammenleben von 170 Nationen im Revier beschworen wird, brodelt ein Gebräu aus Ignoranz, kultureller Blindheit und reaktionären Einstellungen. Arda sucht Freiheit im Rap, in der Literatur.
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Den Dialogen ist Öziris Erfahrung als Theaterautor anzumerken, sie sind oft sogar filmreif. Und von den vielen Dramen der Migration sind nicht wenige in diesem Roman aufgehoben, der nicht zuletzt so ein ganz anderer „Brief an den Vater“ ist. „Vatermal“ war auch schon nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023, den dann Tonio Schachinger mit „Echtzeitalter“ gewann.
(Claassen, 304 S., 25 €.)