Essen. Die deutschen Theater geben ihre Hitparade bekannt: Shakespeare ist der König der Dramen. Die „Zauberflöte“ bleibt der Publikumsliebling.
Da steht er nun, der arme Tor!: 20 deutschsprachige Bühnen widmeten Goethes „Faust“ in der letzten Spielzeit vor der Pandemie (2018/19) aufwändige Neuinszenierungen. Doch das Denkmal deutscher Klassik bekommt Risse, wie die jüngst erschienene Statistik des Deutschen Bühnenvereins zeigt. In der Saison 2022/23 rutschte der Inbegriff des deutschen Dramas auf nur noch acht Neudeutungen ab - und das an insgesamt 437 Theatern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die ihre Daten der Saison 2022/23 für die Statistik „Wer spielte was?“ geliefert haben.
Ganz oben auf deutschen Bühnen: Mozarts „Zauberflöte“ und Büchners „Woyzeck“
Ein unumkehrbarer Abstieg? Wer gleich den Untergang dieser Ikone aus dem Land der Dichter und Denker befürchtet, den tröstet der Bühnenverein als Bundesverband der öffentlichen und privaten Träger der deutschen Theater und Orchester mit einer ganz praktischen Ursache: Theater orientieren sich mehr denn je an den Lehrplänen des Deutschunterrichts. Und hier fiel Goethe in den letzten Jahren vielfach aus dem Bündel der Pflichtstoffe - umso steiler der Aufstieg von Georg Büchners „Woyzeck“. Mit 24 Inszenierungen ist er der amtierende Chartführer im Kanon deutscher Dramen. Die existenzielle Frage „Sein oder Nichtsein?“ muss Shakespeare sich (auch aufgrund seines gewaltigen Werkumfangs) nicht stellen. Mit stolzen 95 Inszenierungen vom „Sommernachtstraum“ bis zu „Hamlet“ steht er unangefochten an der Spitze der Meistgespielten auf unseren Bühnen.
Doch insgesamt wird die Bühnen-Bundesliga deutlich durchlässiger für Neues. Gegenwartsdramatik ist so stark wie nie vertreten: Brecht und Molière, Kleist und Schiller müssen zusammenrücken. Unter den 25 meist inszenierten Schauspielen der Saison sind elf Werke unserer Zeit. Und diese zeitgenössischen Rivalen von „Wilhelm Tell“ und „Der Geizige“ sind genuin nicht einmal Stücke: Juli Zehs „Corpus delicti“ und Karsten Dusses „Achtsam morden“ gehören dazu. In beiden Fällen wurden aus Romanvorlagen viel gespielte Theaterfassungen.
Das allerdings ist ein zentraler Unterschied zum Musiktheater. So ehrgeizig deren Intendanten sich mühen, vergessene Werke wieder für die Bühne aufzuhübschen oder jungen Komponisten ein Podium zu geben, so selten hat das eine wie das andere das Zeug zum Verbleib an der Spitze. Im Gegenteil: Die Dominanz der Repertoire-Lieblinge hat sich kaum verändert. In der Liste der Meistgespielten stehen Mozart (74 Neuinszenierungen!. allen voran „Die Zauberflöte“), Wagner (69) und Verdi (68) mit weitem Abstand auf dem Siegertreppchen. Unter den Top-Ten der Neuinszenierungen ist kein einziger lebender Komponist. Der Jüngste unter den ersten zehn ist Richard Strauss. Er starb 1949.
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Zuschauer-König: Musical-Komponist Andrew Lloyd Webber: 537.066 Menschen kamen ins Theater
Musik von heute ist in Deutschland allenfalls in Gestalt singender Lokomotiven im Musiktheater auch an den Theaterkassen erfolgreich: Die meisten Zuschauer vereinigt Andrew Lloyd Webber, Komponist von „Starlight Express“ und „Jesus Christ Superstar“ auf sich: 537.066. Dahinter muss selbst ein Jahrtausend-Genie wie Mozart zurücktreten: Seine Werke wollten 399.217 Menschen sehen, was Platz zwei bedeutet.
Inszenierungen und Publikum 2022/23
Nach den Theaterschließungen durch die Corona-Pandemie war 2022/23 wieder die erste „normale“ Saison mit ungehinderter Öffnung der Bühnen. So stieg die Zahl aller Inszenierungen in Deutschland auf 6773 (im gesamten deutschsprachigen Theater, also inklusive Österreich und Schweiz, auf 7716). In der letzten regulären Vor-Pandemie-Saison 2018/19 waren es noch 7125 Inszenierungen (8188 inklusive Österreich und Schweiz).
Die Publikumszahlen stiegen 2022/23 auf 18.586.302 in Deutschland (2018/19 waren es noch 22.942.112).
Die Entwicklungen verliefen je nach Sparte unterschiedlich: Das Musiktheater hat zwischen 2018/19 und 2022/23 ein Viertel des Publikums verloren. Im Schauspiel wie im Kinder- und Jugendtheater schrumpfte es um zehn Prozent. Im Tanz blieben die Zahlen fast konstant.
Zahlen sind eine Chance, aus ihnen Taten erwachsen zu lassen. Auch die Theaterleiter der Region müssen ihre Schlüsse aus ihnen ziehen, zumal aktuell kein Opernhaus unserer Region vom Publikum zuverlässig überrannt wird. Ob in Zeiten knapper Mittel also wirklich noch die Stunde der Orchideenzucht schlagen sollte und man Theater für eine Handvoll Interessierter macht, statt das Haus konsequent mit Herzensstücken zu füllen, kann fast keine Frage mehr sein. Immerhin: Die Spielzeiteröffnungen der Region bringen gleich zwei Favoriten in Neuinszenierungen auf die Bühne. In Essens Aalto-Theater gibt es ab 14. September eine neue „Zauberflöte“, Dortmund führt einen Tag später Verdis „Traviata“ zur Premiere. Wir werden berichten.
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