Essen. Unreifes Werk, aber eine starke Inszenierung von Tatjana Gürbaca: Warum die vergessene Faust-Oper den Besuch im Essener Aalto lohnt.

Für mindestens eine kam dieser doch sehr achtbare Erfolg am Samstag Abend in Essens Aalto-Theater zu spät. Sie heißt Louise Bertin, ist gelähmt, schreibt mit kaum 25 Jahren die erste große Oper nach Goethes „Faust“ – und muss mit ansehen, dass ihr Werk bald nach der Premiere 1831 im Nichts verschwindet.

Ist also die Wieder-Entdeckung nach bald 200 Jahren eine Ehrenrettung? Nennen wir es eher einen Fall von künstlerischer Beatmung. Denn es kann dieses Komponistinnenschicksal rühren, so sehr es will: Von einem Geniestreich wird niemand ernsthaft sprechen wollen. Mut zeigt die Komponistin, wagt manches in Harmonien; auch ihre Gabe, lyrische Szenen in feinem Pastell auszumalen, hätte bei guten Lehrern in einem frauenbewegteren Zeitalter sehr wahrscheinlich zu mehr geführt. Aber daneben steht allzu häufig ein relativ wahlloses Verfahren, das Drama in Noten zu erzählen.

Louise Bertinis „Fausto“ in Essen – Aufführungen noch bis Mitte Mai

Bertins Mittel sind oft nicht sicher gewählt oder es fehlt das Maß. Effekte, die der Zeitgeschmack damals forderte, rutschen mitunter ins unfreiwillig Parodistische (Krönung ist ein Riesengong im Finale). Und erhebliche Teile dieses „Fausto“ sind als Zitate nicht zu überhören. Gleich der erste Takt steht im Schatten von Mozarts „Don Giovanni“, später tobt es wie in Carl Maria von Webers „Wolfsschlucht“, der Pomp Meyerbeers steht im Raum, dann Schmeichelndes im Stile Bellinis und hie und da auch die Girlanden des zu Bertins Zeit so einflussreichen Rossini.

Was immer Essens Intendanz antrieb, das Stück aus der üppig besetzten Gruft ungespielter Drittligisten zu rupfen (sicher auch der Wunsch nach Beachtung: Überregionale Presse war angereist, was am Aalto längst nicht mehr die Regel ist): Der Abend hat seine Meriten. Auch halb Geglücktes ernst zu nehmen, ist Essens Philharmonikern Ehrensache. Als groß besetzter Klangkörper adeln sie unter Andreas Sperings Leitung durch alle Orchestergruppen das kompositorische Mittelmaß. Da klingt das Beste von Bertin sogar süffig gut oder - wenn Leid und Liebe Geschwister werden - anrührend schön.

Gehässigkeiten in Schwesterntracht: Das Reich der Medizin ist ein Leitmotiv in Tatjana Gürbacas Regie der Oper „Fausto“ von Louise Bertin am Aalto-Theater Essen.
Gehässigkeiten in Schwesterntracht: Das Reich der Medizin ist ein Leitmotiv in Tatjana Gürbacas Regie der Oper „Fausto“ von Louise Bertin am Aalto-Theater Essen. © Aalto Theater | Monika Forster

Mit ebenso starker Energie hält die Inszenierung uns bei der Stange. Kurios genug: Zuletzt hat Tatjana Gürbaca mit Verdis „Simon Boccanegra“ in Essen ein Werk aus der ersten Reihe in die Kreisliga herunterinszeniert. Jetzt ist es umgekehrt: Die Regisseurin seziert vor allem die Gretchen-Tragödie so packend und präzise, dass ein Werk dritter Garnitur Festspiel-Weihen erhält. Apropos Sezieren: Mephisto (mit Almas Svilpa als tänzelndem Zyniker famos besetzt) steht für den Pakt mit Faust (Mirko Roschkowski mit prachtvollem Tenorschmelz, wenn die Noten nicht gerade emporschnellende Höhen fordern) vom Obduktionstisch wieder auf. Da hat der Teufel (frisch vernäht die Schnitte auf der Brust) sich ein bisschen ausgeruht. Jetzt aber heißt es „Der Nächste, bitte!“

Tatjana Gürbaca inszeniert „Fausto“ in Essen. Schwache Oper, packend inszeniert

Faust ist Arzt, hier in den 1950er/60er-Jahren. Und um seine Profession rankt im kühl stilisierten Bühnenbild Marc Weegers nahezu alles. Die Studierstube: Pathologie eines Krankenhauses. Krankenschwestern geben den Dämonen eine Stimme, später geht die Kulisse des Spitals ins Zombiehafte über, das Gürbaca an die Stelle kleinbürgerlicher Gnadenlosigkeit treten lässt. Und Wissenschaft übertrumpft Gerücht: Der gefärbte Streifen von Gretchens Schwangerschaftstest wird beim Personal herumgereicht wie ein Stückchen amüsanter Yellow Press.

Arzt am Scheideweg: „Fausto“ am Aalto-Theater  mit  Mirko Roschkowski in der Titelrolle.
Arzt am Scheideweg: „Fausto“ am Aalto-Theater mit Mirko Roschkowski in der Titelrolle. © Aalto Theater / Karl Forster | karl forster

Gürbaca, die wegen einer Erkrankung im Ensemble bei der Premiere die Margarita (Gretchen) bestechend souverän spielte (Netta Or sang als Einspringerin die Partie tapfer von der Seite), legt eine brutale, aber auch brutal unterhaltsame Lesart vor. Ironie und menschlicher Abgrund siedeln hier in produktiver Koexistenz. Detailversessene finden bis in jede Chorpartie reichlich Feinheiten, die Charaktere sind deftig, aber doch nie platt auskoloriert unter dem Dach der Geschichte eines Heilenden, der das Unheil bringt – Faust: ein klinischer Fall.

Man muss im Reich der Operngänger nicht zu den Orchideensammlern gehören, um hier einen inspirierten und inspirierenden Abend zu verbringen. Und am Ende noch ein Bravo-Ruf für eine prachtvolle Stimme in der kleinen Partie des Valentin: George Virbans straffer, bronzen grundierter Tenor berechtigt zu den schönsten Hoffnungen.

Weitere Termine: 8. und 23. Februar; 9. und 17. März; 6. und 24. April sowie 11. Mai. Karten: Tel. 02 01 81 22-200 oder

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