Essen. Wie lief der Jahrgang 2024: Die Intendantin des weltgrößten Pianistentreffens spricht über ihr Konzept – und ihren großen Vorgänger.
Heute endet Katrin Zagroseks erste Saison. Als neue Intendantin des größten Pianistentreffens der Welt hat sie Traditionen gehütet, aber von Duisburg bis Gelsenkirchen auch viel Neues gewagt. Und sie war noch nicht einmal offiziell im Amt, als ihr Vorgänger Franz Xaver Ohnesorg ganz plötzlich starb. Nun zieht sie in einem Interview Bilanz. Lars von der Gönna sprach mit ihr über den neuen Job beim Klavier-Festival Ruhr, über große Schatten, das Publikum, trockene Brezel und die Kunst, Klavierabende während der EM zu verkaufen.
Nach der Arbeit ist man schlauer. Sind Sie heute froh, diesen Job angenommen zu haben?
Ja! Punkt.
Einen Mann würde man das nicht fragen: Ihre achtjährige Tochter musste zuletzt sehr tapfer sein...
Das ist sie gewesen! Zwölf Wochen Festival, das ist ein Vierteljahr voller Abendtermine! Sie hatte aber auch viel Spaß. Ich hab’ sie am Wochenende mitnehmen können. Sie durfte vorne bei Mitarbeitern am Ticketstand dabei sein, Listen führen, Kreuze machen und auf diese Weise mitspielen.
Mögen Sie Ihr glückliches „Ja“ über den Intendantinnenposten doch noch etwas ausführen?
Es sind die vielen Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen – auf der Bühne und im Publikum, die ich als sehr inspirierend erlebe. Das Publikum hier beeindruckt mich, die Offenheit. Menschen haben sich nicht gescheut, mich anzusprechen, etwas zum Konzert zu sagen. Die Direktheit mag ich sehr. Ich find’ das gut, viel besser als ein reserviertes Schweigen.
Man kann so gut sein, wie man will: Ein erfolgreicher Vorgänger wirft mächtige Schatten. Und Sie sind in extrem große Fußstapfen getreten; Franz Xaver Ohnesorg führte das Festival Jahrzehnte. Gab es Situationen der Sorte: „Sie sind also die Neue? Da sind wir mal gespannt, wie Sie das machen?“
Ja, natürlich, die ganze Zeit. Ich hab’ das ständig gespürt. Aber nicht negativ. Rückmeldungen reichten von „Sie machen das toll: Es ist wie immer!“ bis „Es ist nicht alles wie immer und das find‘ ich auch gut!“ Mit beiden Echos kann ich gut leben.
Sie hatten Ihr Amt noch nicht offiziell angetreten, da wurde „FXO“ aus dem Leben gerissen. Hätten Sie ihn gern als Ratgeber befragt?
Es waren eher dankbare Gedanken an ihn, gerade zu Beginn des Festivals, als die Eindrücke besonders frisch waren und ich dieses tolle, zugewandte, kenntnisreiche Publikum erlebt habe. Da dachte ich: „Wie schön Xaver das aufgebaut hat!“
Sie gelten als extrem gewissenhaft in der Vorbereitung. Ihr Ehrgeiz, dass bei einem Konzert alles fein geölt läuft, gilt als groß...
Das finde ich wichtig. Man soll da einfach gerne hingehen. Es gibt viele Faktoren, über die man sich bei einem Konzert ärgern kann, die gar nichts mit der Musik zu tun haben – vom schlecht ausgeschilderten Parkplatz bis zum lieblosen Catering oder der zu langen Schlange in der Pause. Dafür fühle ich uns zuständig. All das trägt zum gelungenen Abend bei. Ich frage mich einfach selbst: „Wie hätte ich es denn jetzt gerne als Besucherin?“ Eine trockene Laugenbrezel ist da die Notlösung (lacht).
Intendantin Zagrosek: „Trockene Brezel ist die Notlösung“
Täuscht mein Eindruck, dass auch Klassik-Konzerte mehr denn je ein Gesamterlebnis über die Musik hinaus sind? Bei den Ruhrfestspielen sieht man die Menschen schon zwei Stunden vor Beginn – man isst, man flaniert...
Stimmt: Die Leute kommen hier nicht kurz vor knapp reingerauscht und drücken sich abgehetzt in den Stuhl. Das ist ein Indiz für die Wertschätzung des Konzerts. Ein ganz einfacher Grund ist aber sicher auch, dass der Verkehr im Ruhrgebiet ein Risikofaktor ist, man will nicht wegen des Staus ein Konzert verpassen. Leider ist der Nahverkehr hier nicht weniger störanfällig.
Ihr Programm war anders. Eröffnungs- und Abschlusskonzert galten dem Jazz. Ein Zeichen?
Durchaus. Frische, mitreißende Musik wollte ich im Besonderen für diese beiden Abende. Pure Freude an Musik. Vielleicht auch die Kürze, warum nicht mal „nur“ 75 pausenlose Minuten statt eines Drei-Stunden-Abends? Das war ein Startschuss der gut gelaunten Art!
Sie haben auch ganz anderes gewagt. Ein Vierteiler „elektronische Musik“ in Gelsenkirchen-Ückendorf. Wie lief es?
Sehr gut, die Besucher waren nicht zuletzt von der Heilig-Kreuz-Kirche total begeistert. Und: Dort habe ich drei Viertel der Gesichter des Publikums noch nicht gekannt. Insgesamt fand ich unser Festival mutig. Wir hatten 23 Debütanten, dazu üppig „Jazz-Piano“, die „Youngster“... Aber die Auslastung ist mit etwa 80 Prozent so hoch wie im Vorjahr geblieben, die Zuschauer von arte.concert nicht gerechnet.
Trotz Inflation: 2024 kein Sponsor beim Klavierfestival abgesprungen
Sie kommen ohne Subvention aus, sind angetreten in Zeiten starker Inflation, großer wirtschaftlicher Verunsicherung. Mussten Sie bei den Sponsoren mehr kämpfen?
Mir ist keiner abgesprungen. Die waren nach dem Wechsel eher besonders interessiert und es trifft auch auf Verständnis, dass mit den Kostensteigerungen auch die Sponsoringsummen steigen. Wir kommen vollständig ohne die öffentliche Hand aus.
Ihr Festival fiel in die Europameisterschaft. Haben Sie das beim Verkauf gemerkt?
Wir haben reagiert. Bei dem Deutschlandspiel am 19. Juni haben wir zum Beispiel erst um 20.30 begonnen – und die Philharmonie Essen war sehr gut besucht. Auch etwas, das ich im Ruhrgebiet gelernt habe: Die Leute besuchen das Eine wie das Andere. Sie sind an einem Abend im Stadion und am anderen im Konzert. Das sind keine komplett unterschiedlichen Kulturen.
Heute ist Ihr letztes Konzert. Wie schalten Sie jetzt runter?
Ab ins Meer mit Freunden! Nach Griechenland. Beim Schwimmen kann ich sehr gut Arbeit hinter mir lassen.
Geht es also tatsächlich ganz ohne Klaviermusik?
Ja, auf jeden Fall. Ich kann Ihnen sagen: Das geht sehr gut!
80% Auslastung, 35.000 Gäste
66 Konzerte umfasste die erste Saison von Katrin Zagrosek als Intendantin des Klavier-Festivals Ruhr. Mehr als 35.000 Besucher kamen, was eine Auslastung der Konzerte von etwa 80 Prozent ausmacht. Es gab deutlich mehr Jazz, zu den spektakulären neuen Veranstaltungsorten zählte die zur Kulturkirche umgestaltete Heilig-Kreuz-Kirche von Gelsenkirchen-Ückendorf