Gelsenkirchen. Udo Jürgens, Bob Dylan, Volkslied und Schlager: Echte Opernprofis singen mit Laien im Musiktheater Gelsenkirchen. Das Angebot Rudelsingen brummt.

Hans-Peter hätte noch gern „Guantanamera“ gesungen („Das war 1976 unser erster Tanz“), Elke lieber „Hey Pippi Langstrumpf“. Aber nach dem Steigerlied, das haben sie hier vor Jahren einfach mal festgelegt, ist Schluss. Das wissen nicht alle, die neuen zumal nicht. Und als Moderatorin Hanna Kneißler an diesem Abend zum ersten Mal nach Wünschen fragt und 20 Leute die Arme recken, da will natürlich einer „Glückauf, der Steiger kommt“. Er kriegt es, 90 Minuten später. Geduld!

Fünf Euro für viel gute Laune: Das Feierabendsingen in Gelsenkirchen

Von Profis begleitet: Diese Hände auf den Tasten des Steinway-Flügels gehören Peter Kattermann; sonst dirigiert er am Musiktheater Gelsenkirchen Beethoven, fürs „Feierabendsingen“ aber auch „Tausendmal berührt“ von Klaus Lage.
Von Profis begleitet: Diese Hände auf den Tasten des Steinway-Flügels gehören Peter Kattermann; sonst dirigiert er am Musiktheater Gelsenkirchen Beethoven, fürs „Feierabendsingen“ aber auch „Tausendmal berührt“ von Klaus Lage. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Steigerlied. Wo, wenn nicht hier?! Gelsenkirchen, „Feierabendsingen“, großes Foyer des Musiktheaters im Revier. Glücklich, wer eine Karte hat. Die Kasse haben sie gar nicht erst geöffnet an diesem Abend, da hängt bloß ein knallrotes Schild mit weißer Schrift: „Ausverkauft“. Das Feierabendsingen ist eine Erfolgsgeschichte – und das trotz eines gewaltigen Knicks, der „Corona“ heißt.

Das Feierabendsingen im Musiktheater in Gelsenkirchen ist stets ausverkauft. Schlager schmettern mit Opernsängern ist die Devise. Vorn das Publikum, hinten (v. l. n. r.) Almuth Herbst und Sebastian Schiller vom Gesangs-Ensemble und Dramaturgin Hanna Kneißler.
Das Feierabendsingen im Musiktheater in Gelsenkirchen ist stets ausverkauft. Schlager schmettern mit Opernsängern ist die Devise. Vorn das Publikum, hinten (v. l. n. r.) Almuth Herbst und Sebastian Schiller vom Gesangs-Ensemble und Dramaturgin Hanna Kneißler. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Wo man singt im Revier...

Das nächste Feierabendsingen im Musiktheater im Revier ist erst am 15.11, 19.30 Uhr.
Im Vorverkauf haben Abonnenten und MiR Card-Inhaber die Nase vorn, er beginnt für sie am 4. Juni. Der allgemeine Vorverkauf startet am 18. Juni. Tel 0209-4097200. Oder unter musiktheater-im-revier

Auf der Freilichtbühne in Wattenscheid startet am Freitag, 21. Juni, um 19.30 Uhr das Open-Air-Rudelsingen. Karten inkl. Sitzplatz kosten 16 Euro, der Einlass beginnt um 18.30 Uhr. Weitere Termine und Orte des Anbieters „Rudelsingen“ gibt es unter: rudelsingen.de/termine

Andere Opernhäuser der Region bieten keine festen offenen Singen an, es gibt aber Sonderveranstaltungen, etwa vor Weihnachten.

Große Beliebtheit genießt „Sing Sing Sing“ am Konzerthaus Dortmund, mehrfach monatlich, aber erst ab 60. Termine unter Konzerthaus Dortmund.

Vielfältige Angebote macht das „Mundorgelprojekt“. Aktuelle Termine in der Region sind im Juni bei den Ruhrfestspielen, im Fußballmuseum Dortmund und im Kulturbiergarten Buer. Alle Details unter mundorgel-project.de

Vor Covid, wir erinnern uns, grassierte landauf, landab eine neue Lust am Singen. Sie fand statt abseits von Traditionsvereinen der Sorte MGV Eintracht. Nein, es war die Unverbindlichkeit in Kehlen, die als pure Spaßaktion zusammenführte, das Einfach-So-Hingehen war zugleich der Auftritt singender Massen. Das Rudelsingen, das Mundorgel-Projekt und viele mehr gaben ein Signal, das hieß „Du musst nichts mitbringen außer Lust, deine Stimme zu erheben“.

Textsicher muss beim Feierabendsingen im Musiktheater in Gelsenkirchen niemand sein. Zur Eintrittskarte gibt es ein Textbuch gratis dazu.
Textsicher muss beim Feierabendsingen im Musiktheater in Gelsenkirchen niemand sein. Zur Eintrittskarte gibt es ein Textbuch gratis dazu. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Das tun sie in Gelsenkirchen. Und von Corona-Einbruch keine Spur. Man muss Wochen vorher sich kümmern, um mit einem Profi-Dirigenten (am Steinway: Peter Kattermann) und zwei Sängern des Opernhauses (heute Almuth Herbst und Sebastian Schiller) den Feierabend zu besingen. Die Tickets: Warme Semmeln sind nichts dagegen.

Marion Sczepekt hat richtig zugeschlagen, neun Karten auf einmal. Es ist ihr zweites Mal, aber das erste war einfach so schön, da hat sie ihre ganze Katernberger Nachbarschaft mitgebracht. Die wollten aus Essen erst mit dem E-Bike kommen, aber dann: „Ein teures E-Bike in Gelsenkirchen, wer weiß, ob das nach‘m Singen noch da is‘...“ Liederwünsche? Frau Sczepek mag eigentlich alles, von „Am Brunnen vor dem Tore“ bis „Let it be“.

Feierabendsingen-Fan Marion Sczepek schwärmt „Die intime Atmosphäre, das Singen mit Profis und einem richtigen Pianisten: toll! Und dass man sich was wünschen darf!“
Feierabendsingen-Fan Marion Sczepek schwärmt „Die intime Atmosphäre, das Singen mit Profis und einem richtigen Pianisten: toll! Und dass man sich was wünschen darf!“ © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Das mit dem Feierabend kann einfach nur die Uhrzeit sein (19.30 Uhr), und auf den ersten Blick könnte mindestens ein Drittel der 120 Singenden den aufgrund ihres Alters wohl längst ganztägig genießen. Aber vielleicht ist das auch übergeordnet gemeint: Alltag weg, ob Arbeit oder nicht, zusammenkommen und mit „Schön ist es auf der Welt zu sein“ und „Yellow Submarine“ die Hässlichkeiten dieser Welt vergessen. Es ist kein Mythos, dass das funktioniert: „Es ist ja erwiesen, dass Singen uns Mut macht. Das Gehirn kann nicht parallel zum Singen Angst erzeugen“, sagt Almuth Herbst.

Unter den weltberühmten blauen Reliefs von Yves Klein findet die Kult-Veranstaltung statt, stets restlos ausverkauft: Blick auf die  Feierabendsängerinnen und -sänger im großen Foyer des Musiktheaters im Revier.
Unter den weltberühmten blauen Reliefs von Yves Klein findet die Kult-Veranstaltung statt, stets restlos ausverkauft: Blick auf die Feierabendsängerinnen und -sänger im großen Foyer des Musiktheaters im Revier. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Hier im Opernhaus singt die Mezzosopranistin sonst Wagner, Strauss, Offenbach. Und nun Beatles, Scorpions, Udo Jürgens? Überhaupt kein Problem: „Privat hör‘ ich überwiegend Popmusik, komm aus der Rock-Szene. Ich hatte mit meinem Mann zusammen immer Bands. Als Profi mit Laien zu singen, das find‘ ich unheimlich beglückend. Zu sehen, wie die Leute beseelt mitschmettern: total großartig.“

Bei Rosé und Laugenbrezeln: Schlager, Volkslieder, Pop: „Wind of Change“, „Country Roads“ und „Hoch auf dem gelben Wagen“

Das finden die Laien auch. Es geht Schlag auf Schlag bei Laugenbrezeln und kühlem Rosé, Zugabe-Rufe am Ende, aber der Steiger ist heilig, danach geht nichts mehr. Davor: Überraschend viel auf Englisch, es dauert lange, bis „Hoch auf dem gelben Wagen“ kommt. Davor „Wind of Change“, „Blowin in the Wind“ „Country Roads“.

Marijana Werner: „Ich bin zum ersten Mal hier. Ich mag einfach Musik, gute Songs, WDR 4 als Sender, da gefällt mir viel. Gesungen hab‘ ich einfach immer schon gern, auch in der Schule.“ 
Marijana Werner: „Ich bin zum ersten Mal hier. Ich mag einfach Musik, gute Songs, WDR 4 als Sender, da gefällt mir viel. Gesungen hab‘ ich einfach immer schon gern, auch in der Schule.“  © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Später jubeln sie für Rio Reisers „König von Deutschland“, schießen „Major Tom“ ins All. Bei „The lion sleeps tonight“ schafft es Sebastian Schiller, den zehn Dutzend Kehlen gar mit getrennten Chören („wim-o-weh“) satten Afro-Sound zu entlocken. Kann sich jeder alles wünschen? Jein. Es ist eine Auswahl in Grenzen, 30 Titel vom Volkslied („Der Kuckuck und der Esel“) über Schlager („Aber bitte mit Sahne“) bis Pop („Son of a Preacher Man“). Das Programm wechselt, jeder kriegt zur Eintrittskarte (5 Euro) ein Text- und Notenheft dazu.

Annemarie Dressler: „Die Karte zum Feierabendsingen ist ein Geburtstagsgeschenk zu meinem 68. Passt zu mir: Musik geht immer bei mir. Udo Jürgens ist für mich ein ganz Großer. Smokie und die Bee Gees habe ich geliebt! Musik, die zum Feierabend passt? Neil Diamond steht bei mir weit vorne, ,Sweet Caroline‘ oder ,Beautiful Noise‘!“
Annemarie Dressler: „Die Karte zum Feierabendsingen ist ein Geburtstagsgeschenk zu meinem 68. Passt zu mir: Musik geht immer bei mir. Udo Jürgens ist für mich ein ganz Großer. Smokie und die Bee Gees habe ich geliebt! Musik, die zum Feierabend passt? Neil Diamond steht bei mir weit vorne, ,Sweet Caroline‘ oder ,Beautiful Noise‘!“ © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Sie haben ganz anders angefangen im Musiktheater, viel weniger Gäste, nebenan im Kleinen Haus. Mit Corona – erst Lockdown, dann Hygieneregeln – brach alles weg. Heute boomt es. Die Menschen, die man sieht: glücklich. Die Gründe, alle gut, alle verschieden: „Dass ich hier laut singen darf, ohne dass einer meckert, finde ich super!“, lacht Annemarie Dressler. Heute Morgen noch im Altenheim mit den Bewohnern „Rote Rosen“ gesungen hat Marijana Werner. „Am meisten“, strahlt sie, „freue ich mich, dass hier heute Abend ,Glückauf, der Steiger kommt‘, gesungen wird. Weil wir Bergleute in der Familie haben. Und jedes Mal ist das einfach sehr schön, sehr emotional für mich.“

Stephan Finkbeiner: „Ein Feierabendsong der bei mir immer geht? Als Ärzte-Fan sage ich ,Westerland‘“!
Stephan Finkbeiner: „Ein Feierabendsong der bei mir immer geht? Als Ärzte-Fan sage ich ,Westerland‘“! © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Stephan Finkbeiner weiß schon vorher, warum wir ihn fragen: „Ich dachte schon, dass Sie mich ansprechen: jung und Mann, die Kombi ist hier ja selten. Meine Mutter hat mir die Karte geschenkt, ich hätte mir mehr Aktuelles gewünscht.“ Aber auch bei den Oldies hier im MiR drückt er sich nicht: „Ich singe ganz gern, ob in der Dusche oder im Auto, auch wenn bei meiner Stimme Hopfen und Malz verloren sind“, lacht er. Der Student trägt ein T-Shirt von der letzten Tour der „Ärzte“. Sage niemand, deren Titel sei Finkbeiners textiler Kommentar zu den vielen Oldies im Liederbüchlein: „Herbst des Lebens“.