Essen. Ob „Frau Luna“ oder „Die lustigen Weiber von Windsor“ – Hans-Günter Papirnik aus Essen bringt sie alle auf die Bühne. Wenn auch im Kleinformat.
In der Biedermeierzeit spielten bürgerliche Familien zu Hause mit ihnen die ersten Stücke nach: Papiertheater waren in der sogenannten „Bilderbogenkultur“ des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Lange vor Fernsehen und Radio boten die hübschen Minibühnen aus bunter Pappe kulturelle Unterhaltung für Klein und Groß. Mit dieser Tradition kennt sich Hans-Günter Papirnik bestens aus. Mehr noch: Der 64-Jährige Essener gründete 2012 sein eigenes Papiertheater und führt in einem fahrbaren Kasten auf 50 mal 50 Zentimetern regelmäßig Opern vor Publikum auf. „Damit alle gut sehen können, sollten es nicht mehr als 14 Zuschauer sein.“
Bühne steht auf einem Jahrmarktwagen
Im Flur des Fachwerkhauses in Essen-Überruhr öffnet Papirnik seinen zauberhaften Theaterkasten. Der steht auf Rädern und ist mit einem roten Tuch abgedeckt. Die Bühne und ihre Technik verbergen sich in einem Jahrmarktwagen, den er selbst gebaut hat. Denn Tüfteln ist Papirniks Leidenschaft. Aus einem Stahlrahmen und Holz zimmerte der handwerklich versierte Sonderpädagoge – Deutsch und Kunst sind seine Fächer – mit Liebe zum Detail das Theater für seine Figuren. Die sind ausnahmslos Opern- und Operettenstars. „Das löst oft erst einmal Verwunderung aus. Doch die Stücke konzipiere ich so, dass sie auch Menschen erreichen, die dem Musiktheater ansonsten fernbleiben“, erklärt Papirnik.
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„Die lustigen Weiber von Windsor“
In rund 60 Aufführungen pro Jahr segelte unter anderem der Wagner-Klassiker „Der Fliegende Holländer“ im Miniaturformat übers Meer. Auch mit „Hänsel und Gretel“ nach Engelbert Humperdinck und der Operette „Frau Luna“ (Paul Lincke) samt fliegender Mondrakete sorgte der Essener für Begeisterung. Derzeit lässt er die „Die lustigen Weiber von Windsor“ an Führungsstäben über die Bühne tanzen. Diese deutsche Oper komponierte Otto Nikolai 1845 bis 1849, inspiriert von italienischen Werken. Keine drei Stunden, sondern rund 40 Minuten dauert die Vorstellung nach der literarischen Vorlage von William Shakespeare.
Stolz präsentiert uns der Theaterdirektor die erste Szene: Wie in einem großen Haus hebt sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf die beleuchtete Bühne. Dort begegnen sich die verheirateten Damen Fluth und Reich. Beide haben den gleichen schwülstigen Liebesbrief von Falstaff erhalten. Für diese Unverschämtheit wollen die Weiber dem verarmten Landadligen eine Lektion erteilen… Nur zu gern hätten wir weiter in den liebevoll gestalteten Kasten geschaut, um dem amüsanten Spiel zu folgen.
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Die Musik ist stärker als alle Mordpläne
Einmal im Jahr wechselt das Programm. Im September 2024 feiert das neue Stück Premiere, die romantische Oper „Alessandro Stradella“ nach Friedrich von Flotow, uraufgeführt am 30. Dezember 1844 im Stadttheater Hamburg. Auch wenn Papirnik, der Kunst studierte, es vermutlich selbst könnte: Die Bühnenbilder und Figuren seiner Produktionen entwirft er nicht selbst. „Es gibt im In- und Ausland noch einige Anbieter, die Bögen mit historischen Vorlagen drucken.“
Da wurde er auch diesmal fündig und bestellte für den kommenden Dreiakter passende, venezianische Kulissen. Herrschaftliche Häuser mit Gondel-Romantik am Canal Grande für die Story um den wohlhabenden Bassi, der sein Mündel, die hübsche Leonore, heiraten will. Die aber ist in den Sänger Alessandro Stradella verliebt. Und dann ist auch noch Karneval in Venedig – alles in allem eine wunderbare Krimi-Komödie, in der am Ende – wie schön! – die Musik über alle mörderischen Pläne siegt.
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Jede Menge Handarbeit
Am großen Esstisch schneidet Papirnik vorsichtig die bunten Darsteller für die nächste Produktion aus, die nunmehr zwölfte. Die Motive klebt er auf dünne Multiplex-Holzplatten. Das Besondere: „Alle Charaktere haben eine Vor- und Rückseite. Sie können sich somit drehen und sind von zwei Seiten spielbar.“ Das verleiht den zweidimensionalen Puppen mehr Lebendigkeit. Die rund 16 Zentimeter hohen Pappkörper befestigt der Essener jeweils an einem Draht, an dessen Ende ein Korken sitzt. An diesem führt er die Figuren von oben mit Fingerspitzengefühl über die Bühne, wobei er fürs Publikum unsichtbar hinter dem Theater steht. Von Hand bedient er die ausgefeilte Bühnentechnik.
Jedes Stück ist komplett durchgetaktet. Musik und Ton kommen vom MP3-Player. Pannen oder Zwischenrufe brächten den Ablauf durcheinander. Die Texte schreibt er selbst, wobei er die literarischen Vorlagen auf das Wesentliche kürzt. Und bisweilen kreativ modernisiert, wie demnächst mit einer frei erfundenen Agentur „Killerando“. Ohne zu viel verraten zu wollen: „Meine Sprecher sind aus dem Kollegium der Franz-Sales-Förderschule, an der ich arbeite. Sie freuen sich schon auf die neuen Texte.“ Die jeweilige Musik arbeite er von CDs ein. „Zwei Drittel Dialoge, ein Drittel Musik“ machten die Stücke aus.
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Die Liebe zur klassischen Musik
Wie er zu diesem seltenen Hobby kam? „Ich liebe klassische Musik, die Opern von Rossini zum Beispiel und Melodiöses von Weber und Offenbach. Ich singe seit vielen Jahren im Extra-Chor des Aalto-Theaters.“ Schon 1976 gründete er eine eigene Marionettenbühne, die er bis 1990 mit Freunden betrieb. Vor bald zwölf Jahren sattelte er um. Das rollende Minitheater verlädt er in seinen Caddy und reist durchs Land. Auch auf Figurentheater-Festivals sieht man den kreativen Mann aus Überruhr, im August 2023 traf er Kollegen in Lehesten in Thüringen. Rund 40 Vorstellungen fanden statt. Papirnik überzeugte vor Kennern mit „Die Meistersinger von Nürnberg“.
Nur etwa drei Quadratmeter Platz benötigt das Theater. Manche Auftritte kann sein Betreiber nicht vergessen. „Einmal habe ich in einem Seniorenheim im Zimmer einer alten Dame den ‚Fliegenden Holländer‘ gespielt. Ihre Freude zu sehen, war das Schönste überhaupt“, erinnert er sich. Wenn das Publikum gleich beim ersten Ton zu lächeln anfange, sei alles richtig.
Die aus etwa 25 aktiven Bühnen bestehende Szene der deutschen Papiertheater trifft sich regelmäßig. In Hanau (Hessen) sitzt der Verein „Forum Papiertheater“ und stellt im eigenen Museum in Schloss Philippsruhe über zwanzig komplette Bühnen samt Figuren aus. Stücke werden dort ganzjährig gespielt. Der Blick hinter die Kulissen ist ausdrücklich gestattet. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Tradition zu erhalten. Auch Papirnik lässt sich über die Schulter schauen.
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Feierabend unter einem roten Tuch
So erkunden wir von hinten den selbst gebauten Wunderkasten mit den Führungsschienen für die Kulissen. Über weiße Drehschalter werden die verschiedenen Lichtstimmungen gesteuert, passend zur jeweiligen Tageszeit im Stück. Perfekt. Es gibt sogar einen kleinen, roten Feuerlöscher und einen Plan mit Flucht- und Rettungswegen. Aus Spaß. „Den hat mir ein befreundeter Brandschutzsachverständiger empfohlen“ schmunzelt Papirnik. Keine fünf Minuten später, dann ist die Bühne wieder geschlossen. „Papirniks Papiertheater“ verschwindet unter dem roten Tuch. Bis zur nächsten Aufführung.
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