Olpe. Der Jurist André Stahl (35) aus Olpe ist von Geburt an blind. Heute spricht er als Richter Urteile. Er sagt: „Für mich ist das ganz normal.“
Justitia gilt als die Göttin der Gerechtigkeit. Und sie ist blind. Zumindest aber einäugig. Seit dem 15. Jahrhundert jedenfalls sind uns unzählige Bilder und Statuen mit eben dieser Gerechtigkeitssymbolik überliefert und vertraut: Justitia, die blinde Verkörperung der Gerechtigkeit, die blind, ohne Ansehen der Person, urteilt. Was aber, wenn ein leibhaftiger Richter unserer Tage wirklich blind ist?
Dr. André Stahl ist Richter am Amtsgericht Olpe – und er ist blind von Geburt an. Genauer und offiziell beschrieben, ist er „blind im Sinne des Gesetzes“. Im Falle des Sauerländer Juristen bedeutet das, sein rechtes Auge war immer schon ohne jegliche Sehkraft (inzwischen wurde es sogar operativ entfernt und durch ein Glasauge ersetzt). Auf seinem linken Auge hat er ein extrem eingeschränktes Sehvermögen: „Ich kann Dinge vor allem wahrnehmen, wenn sie sich direkt vor meiner Nase befinden“, erklärt das André Stahl. Und er ergänzt: „Wenn Gegenstände weiter von mir entfernt sind, nehme ich diese nur umrissartig oder je nach Tagesform meines Auges und Lichtverhältnissen gelegentlich auch gar nicht wahr. Auch die stärkste Brille könnte daran nichts ändern.“
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Examina mit Prädikat bestanden
Mit dieser erheblichen Einschränkung hat der heute 35-jährige Olper in seiner Heimatstadt eine reguläre Grundschule besucht, anschließend am Gymnasium das Abitur gemacht und danach in Münster Jura studiert. Die beiden Examina hat er dort mit einem Prädikat absolviert und auch noch promoviert. So weit die nüchternen Fakten, die eigentlich schon beeindruckend genug erscheinen. Doch natürlich steht hinter diesen bloßen Ausbildungsstationen eben ein sehr besonderes Schicksal. Und darüber hat André Stahl jetzt unter dem Titel „Ohne Ansehen der Person“ (Bonifatius Verlag, 280 S., 22 Euro) ein beeindruckendes Buch geschrieben.
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„Ich habe es nie anders kennengelernt“
Intelligenz, Fleiß, Durchhaltewillen, Disziplin und unbedingte Zielstrebigkeit waren und sind die tragenden Anlagen und Charaktereigenschaften dieses außergewöhnlichen Richters. Natürlich ist seine bisherige Lebensgeschichte, die er in seinem Buch darlegt, eine bewundernswerte Leistung. Sie ist aber auch ein Protokoll vielfacher Rückschläge, schmerzlichster Einschnitte und immer wieder dramatischer Zweifel. „Ich wollte immer der Beste sein“, lautete André Stahls Credo, dem er auf seinem steinigen Bildungsweg alles unterordnete.
Kein Verschnaufen nach jeder Hürde, sondern ein stetes Immer-Weiter war sein rastloser Motor gegen und mit allen Widrigkeiten. Seine so gravierende Sehbeeinträchtigung kommentiert der Olper lakonisch mit dem Satz: „Das Ganze ist für mich ziemlich normal, denn ich habe nie etwas anderes kennengelernt.“
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Doch dieses „normal“ ist natürlich voller Tücken, buchstäblicher Fallstricke und immer wieder schwierigen Herausforderungen.
Lernen, die Hilfe anderer anzunehmen
Bei allem Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen musste der junge André erst einmal lernen, die Hilfe anderer dann und wann anzunehmen. Er musste auch den Umgang mit verschiedenen technischen Lesehilfen mühsam einüben und ein deutlich verlängertes Zeitmanagement beim Lernen und überhaupt im Alltag akzeptieren. Der Stellenwert von Freizeitgestaltung, der Umgang mit Schul- und Studienkollegen, Prüfungssituationen und nicht zuletzt auch mit verschiedenen körperlichen Folgeerscheinungen, bedingt durch die eigene Blindheit, kennzeichnen seinen Weg, der allenfalls ihm selbst die Vokabel „normal“ zu entlocken vermag.
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Dann am Ende schließlich der genugtuende erfolgreiche Studienabschluss mit der Zulassung zum Richter. Und zum promovierten Juristen obendrein. Man werde von ihm noch einiges hören, prophezeite ihm der damalige Präsident des Oberlandesgerichts in Hamm.
„Ein Traum und kein Trauma“
Irgendwann stand auf dem langen Weg durch die längst nicht immer leichten Instanzen für André Stahl eines fest: Er wollte gern in seiner Sauerland-Heimat am dortigen Amtsgericht eingesetzt werden. Und er wollte als Betreuungsrichter arbeiten.
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Wie der Name schon sagt, entscheidet ein solcher Richter über Betreuungsmodalitäten von Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen. Bei Demenzfällen, angeborenen geistigen Einschränkungen, Suchtkrankheiten und anderem. Das Betreuungsrecht ist unter Juristen nicht sonderlich populär und für Rechtsanwälte auch finanziell nicht sehr attraktiv. Für André Stahl ist es, vornehmlich auch in Olpe, wo er sich bestens auskennt und vertraut fühlt, „ein Traum und kein Trauma“, wie er schreibt. Denn seine eigene Beeinträchtigung macht ihn besonders sensibel, fast möchte man sagen prädestiniert, für die Einschränkung anderer Menschen. Seine starke Sehschwäche wird in der Praxis von einer Begleitperson bestmöglich ausgeglichen, die ihm vor Ort erläutert, was er nicht zu sehen vermag.
Es geht um Menschenwürde
Dass ab und an die Begleitung in einer ersten Kontaktaufnahme mit dem Richter verwechselt wird, trägt Dr. Stahl inzwischen mit Würde und Gleichmut. Einmal korrigiert, gibt es danach beiderseits ohnehin keinen Irrtum mehr. Als Betreuungsrichter versteht sich André Stahl als einfühlsamer Entscheider, der buchstäblich nach bestem Wissen und vor allem auch Gewissen abwägt. Es geht um Einweisungen in Kliniken, psychiatrische Einrichtungen und um persönliche Freiheiten. Es geht um Menschenwürde, Gefahren-Verhinderungen und auch darum, Hoffnungen in schwierigen und schwierigsten Situation auszuloten und zu formulieren. Es geht um Freiheit und Freiheitsentziehung. Ja, wenn man so will, geht es auch manchmal um Leben und Tod.
Über all das legt der Richter André Stahl in seinem Buch sehr offen und sehr ehrlich Rechenschaft ab. Über sein Leben und auch über einige besondere Lebensschicksale anderer Menschen, über die er bisher zu entscheiden hatte.
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