Düsseldorf. Sonst verboten, in Düsseldorf erlaubt: Die Kunstwerke aus dem Privatbesitz des Bildhauers sollen berührt werden. Tägliche Reinigung.
Jetzt aber in echt: Während im Duisburger Lehmbruck Museum bereits eine Ausstellung läuft, in der man Skulpturen mit Handschuhen anfassen darf, soll man im Düsseldorfer Kunstpalast nun getrost mit nackten Händen zupacken: „Please, touch!“ ist die Ausstellung mit rund 30 Skulpturen aus dem Privatbesitz des Bildhauers Tony Cragg (74) überschrieben, bitte berühren! Und man merkt: So manches, was glänzend und glatt wirkt, ist in Wirklichkeit rau an der Oberfläche. Craggs elegant geschwungene Wellenwesen, oft übermannshoch, lassen bei aller Glätte immer noch die Maserung spüren, wenn sie aus Holz sind. Das Gusseisen seiner „Falschen Idole“ fühlt sich nicht von ungefähr stumpf an, und die meterhohe Muschel-Variation „Outspan“ (nach einer britischen Orangenmarke benannt) hat noch etliche Stellen, an denen der leuchtend gelbe Lack über der Bronze etwas unsauber getrocknet ist. Manche Besucherin berührt die Werke trotzdem ganz vorsichtig. Wie in Sorge, etwas beschädigen zu können.
Tony Cragg war vier Jahre lang Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie, wo er seit 1988 als Professor gelehrt hat. Er fertigt Skulpturen aus Glas, aus tausenden Glücksspielwürfeln, aus Corten-Stahl und Travertin-Stein, aus Kunststoffen wie Kevlar, Jesmonite oder Fieberglas. Alles fühlt sich unterschiedlich an. Museumsdirektor Felix Krämer, der die Ausstellung gemeinsam mit Cragg organisiert hat, spricht vom „Erfassen“ eines Werks. „Es geht aber nicht nur ums Anpacken“, ergänzt Cragg, „es geht darum, die Werthaltigkeit der Form zu erfassen.“
Tony Cragg will unsere Formen-Welt bereichern: „Das ist ein Leben!“
Das wiederum geht durch Abtasten allein nicht. Es bleibt ja dabei: Skulpturen sind in erster Linie zum genauen Ansehen gedacht. Und wie leicht ist zu übersehen, dass die drei oder vier Meter hohen Figuren von Cragg oft auf einem Fuß stehen, der nicht viel größer ist als ein menschlicher – Meisterwerke des Ausbalancierens und -tarierens. Und des Assoziierens. „Die Armut unserer Formen-Welt ist eine Aufgabe für einen Bildhauer“, sagt der Künstler, „das ist kein Konzept, das ist ein Leben!“
Bildhauer müssen dazu ihre Werke berühren, das Publikum im Museum darf es normalerweise nicht. Draußen, in „freier Wildbahn“, zeugen glänzende Flecken auf frei zugänglichen Bronze-Skulpturen davon, wie gern Menschen gerade sie anfassen. Es soll sogar Kunstsammler geben, die Skulpturen nur deshalb kaufen, um sie nach Herzenslust berühren zu können.
Henry Moore ließ schon vor Tony Cragg seine Werke berühren – 1950 in Hamburg und Düsseldorf
Aber es gab auch schon mal Ausnahmen im Museum: Henry Moore erlaubte 1950, einige Skulpturen seiner Ausstellung zu betasten, die in der Hamburger Kunsthalle und im Düsseldorfer Kunstpalast gastierte. Wie er glaubte auch seine Studien- und Bildhauerkollegin Barbara Hepworth: „Jede Skulptur muss berührt werden.“ Und gerade die Skulpturen ihres in Liverpool geborenen Landsmanns Cragg mit ihren meist polierten Oberflächen und den frei schwingenden Formen reizen enorm dazu, sie zu be-greifen. Cragg selbst aber fasst seine Skulpturen nur an, bis sie fertig sind. Danach reizt es ihn nicht mehr.
„Fast alle Materialien werden nicht besser, wenn man sie berührt,“ sagt er. Und weiß, dass er die 30 Werke der Ausstellung nach ihrem Ende wird „überarbeiten“ müssen. In der Ausstellung werden sie jedenfalls täglich gereinigt, stellte Museums-Chef Krämer klar, „und vielleicht auch häufiger, je nach dem, wie viele Besucher kommen.“ Und nein, Handschuhe hält er nicht für nötig, „da fühlt man die Temperatur nicht, die Oberfläche kaum. Und wir ziehen uns ja auch die Handschuhe aus, wenn wir einander die Hand geben.“ Wer, etwa aus hygienischen Gründen, lieber Handschuhe überziehe, könne die Skulpturen aber auch damit abtasten.
Bei einem Werk in der Ausstellung zögert man aber doch: eine bronzene, 1,80 Meter hohe „Welle“ aus lauter kleinen Menschenleibern. Schon der Anblick bereitet ein mulmiges Gefühl. Das Figürliche wird zum Kreatürlichen, der Mensch zu Masse und Material. Das zu berühren gruselt.
Tony Cragg möchte aber nicht, dass Menschen auf seiner Kunst herumklettern
Dass Menschen auf seinen Skulpturen herumklettern, möchte Tony Cragg hingegen unbedingt verhindern, obwohl es in seinem privaten Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal gelegentlich passiert: „Das ist desaströs! Das ist ein Eingriff in die Absicht des Künstlers! Meine Skulpturen sind eine gewollte Verlängerung meines Körpers, das gehört alles zu mir, ich kann das nicht auseinanderfriemeln.“
Am Schluss der Ausstellung ist auf schier himmelhohen Regalen das Atelier von Tony Cragg nachgestellt, um den „Blick über die Schulter“ des Meisters abzurunden. Die Regale quellen über vor halb und fast fertigen Skulpturen, Köpfen und einem Igel aus lauter Schraub-Haken. Da liegen Meißel und Beitel, da stecken Pinsel im Glas. Hier ruht ein Kitsch-Buddha, dort ein Styropor-Häuschen, ein signierter Plastikball, Messbecher, alte Fotos, Schraubendreher und ein Geodreieck plus Zirkel in XXL. Und hier, darauf weist nicht nur ein Schild hin, sondern bei Bedarf auch das Aufsichtspersonal, gilt dann doch wieder: Berühren verboten!