Duisburg. Berühren erlaubt, berühren erwünscht – mit Handschuhen: Die Ausstellung „Shape!“ im Duisburger Lehmbruck Museum geht neue Wege.
Als die junge Frau mit der Rechten über die glänzend glatte Polyesterhaut streicht, schleicht sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, mit einem Hauch von Seligkeit. So glatt, so handschmeichlerisch sind die Formen der braunen, abstrakten Skulptur. In jedem anderen Museum hätten jetzt die Sirenen aufgeheult. Im Souterrain des Duisburger Lehmbruck Museums aber ist die Alarmanlage für diese besondere Ausstellung abgestellt: Wer sie besucht, darf die Kunstwerke anfassen. Nein: Soll sie anfassen. Soll sie nicht nur mit den Augen wahrnehmen, sondern auch mit den Händen spüren. Scharen von Kunst-Fans haben sich das schon einmal gewünscht: Kunst, die sie berührt, berühren zu dürfen.
Handschuhe sind Pflicht bei der Tast-Ausstellung „Shape!“ im Lehmbruck Museum
„Bah, wenn das jeder mit seinen Wurstfingern machen würde!“ Der Blick der Dame mit auffälligem Schaltuch und Marlene-Dietrich-Hosen tadelt ihren Begleiter, der immer noch mit unschuldigem Augenaufschlag seine Hände prüft – gerade hat ihn der ernsthaft besorgte Museumswärter, der die Sirene ersetzt, freundlich darauf hingewiesen, dass man sich doch bitte Handschuhe überstreifen möge, bevor man der „Sitzenden Frau“ von Edwin Scharff über den Kopf streicht. Corona hat uns alle etwas sensibler gemacht für Hygiene. Aber es geht auch darum, die Kunstwerke zu schützen. Für die Tast-Ausstellung hat das Lehmbruck nicht unbedingt seine Spitzenwerke freigegeben. Aber vier- bis fünfstellig ist der Wert der meisten Werke hier durchweg. Und Handschuhe liegen in Boxen bereit: links die gewaschenen, rechts soll man die gebrauchten hineinwerfen.
Da kommt ein Junge um die Ecke geschlendert. Elf ist er, vielleicht zwölf. Und scheint zu überlegen. Mit schrägem Blick auf Robert Ittermanns „Mädchen-Halbakt“ aus Bronze. Das Modell für diesen fast naturalistisch nackten Oberkörper dürfte nur zwei, drei Jahre älter als der Junge gewesen sein. Hm. Er geht dann doch lieber zum ironischen „Handlesebuch“ von Timm Ulrichs, das aus zwei emporgereckten Bronze-Händen besteht. Und tastet sie sehr genau ab.
Der „Liegende Jüngling“ von Norbert Kricke und ein „blindes“ Männergesicht von Gil Shachar
Männliche Körper können hier allerdings auch befingert werden, der „Liegende Jüngling“ aus Norbert Krickes figürlicher Anfangszeit etwa oder der sehr in die Länge gezogene „Schauspieler“ von Gustav Seitz oder Gerd Ewels „Junger Mann“ von 1959. Das Trio älterer Damen schräg gegenüber belässt es lieber beim Gucken. „Meine Jüngste ist jetzt Sportlehrerin. Die hatte schon als Baby richtig muskulöse Beine.“ – „Sag mal, das ist das nicht Gips hier?“ – „Gips doch gar nicht, höhö!“ – „Steht die jetzt oder sitzt sie?“ Nun, das ist bei diesen Frauenfiguren, die nach unten hin einen dicken Kegel ausbilden, nicht immer so eindeutig. Aber sie haben eine herrlich raue Oberfläche, die macht mindestens genauso neugierig wie das Glatte dieser abstrakten Polyester-Form, die an einen ruhenden Riesendackel unter einer Schutzfolie erinnert.
Ganz hinten bleibt gerade der Mann in Jeans und Holzfäller-Karo mit seinem weißen Handschuh hängen am hellen, von leichtem Rosa durchzogenen Marmor von Francesco Somaini. Einige Partien dieses Blocks sind noch fast roh, aber in Falten ausgearbeitet. Auf zwei Seiten allerdings ist der Marmor auf Hochglanz poliert – der Kontrast macht hier den Reiz des Werks aus. Aber man spürt ihn mit den Händen viel besser als dass man ihn sieht.
Von den 22 Werken dieser Ausstellung dürfen genau zwei nicht angefasst werden: Das Männergesicht aus Wachs, dem zwei Hände die Augen zuhalten (von Gil Shachar) hängt allerdings so weit oben, dass selbst Basketballspieler einen großen Satz machen müssten. Und der „Hagener Torso“ des Museumspatrons Wilhelm Lehmbruck. Der steht hinter Glas. Zu wertvoll. Allerdings kann er indirekt ertastet werden. Denn daneben liegen, auch das eine Rarität, die originalen Gussformen aus Gips, also das „Negativ“ der Skulptur.
„Shape!“ bietet einen Schwarzlichtraum mit Kostümen für neue Körperformen
Da stürmen drei Kinder durch den Ausstellungsraum, sie haben sich rätselhafte Zeichen ist Gesicht geschminkt. Der Vater, ebenfalls von Symbolen zwischen Urwald-Kunst und außerirdisch gezeichnet, folgt gemessenen Schrittes, wie um sie wieder einzufangen. Die Familie war im Schwarzlicht-Raum, wo die Zeichen im Gesicht zu leuchten beginnen. Genau wie die Körperformen auf den Kostümen, die man sich hier umhängen kann, um mal ganz andere Konturen zu bekommen und sich darin einzufühlen.
Die Tast-Ausstellung im Lehmbruck trägt den Titel „Shape!“, was nicht nur eine Reverenz an den Zeitgeist ist: Im Englischen bedeutet das Wort „Form“, aber auch die Aufforderung „forme!“ Der Parcours ist auch gut geeignet für Menschen mit Seh-Beeinträchtigungen. Und wer sich kurz einmal fühlen möchte wie sie, kann sich führen lassen – zwischen den Handschuhen liegen Schlafmasken bereit.