Essen. Das Buch „Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“ enthält Reden und Texte der Literaturnobelpreisträgerin aus den vergangenen 20 Jahren.

Die Zahnbürste hatte sie immer in ihrer Handtasche, wenn die Securitate, die rumänische Geheimpolizei, sie mal wieder zum Verhör einbestellte. Für den Fall, dass sie nicht mehr nach Hause komme. Oft hat Herta Müller davon erzählt. In ihrem neuen Buch macht sie es wieder.

Gleich mehrmals. Selbst nach ihrer Ausreise 1987 in die Bundesrepublik noch war die Zahnbürste ihr ständiger Begleiter. Bis ihr in Florenz, wo sie zu einer Lesung eingeladen war, in einem Straßencafé die Handtasche gestohlen wurde. Zwar tauchte sie ein paar Tage später wieder auf. Alles war noch drin. Nur das Geld und die Zahnbürste fehlten.

2009 bekam die 1953 im rumänischen Nițchidorf geborene und als Angehörige einer deutschen Minderheit im Banat aufgewachsene Herta Müller den Nobelpreis für Literatur. Man könnte fast meinen, das Komitee in Schweden habe ihr damit keinen Gefallen getan. Nach ihrem Buch „Atemschaukel“ (2009) ist kein Roman mehr von ihr erschienen. Als sei die Last zu groß. Stattdessen Collagenbände wie zuletzt „Im Heimweh ist ein blauer Saal“ (2019) oder „Der Beamte sagte“ (2021) sowie einige Bücher mit gesammelten Essays, Interviews und Vorlesungen, gerade so, als wolle ihr Verlag den Motor am Laufen halten.

Reden und Texte der vergangenen 20 Jahre

Auch ihr neues Buch „Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“, das Reden und Texte der vergangenen 20 Jahre enthält, fällt auf den ersten Blick betrachtet unter diese Kategorie. Da ist zu lesen, wie Herta Müller sich als junge Frau weigert, für den Geheimdienst tätig zu werden. Wie sie danach von diesem diffamiert wird und deswegen bei ihren Arbeitskollegen in der Fabrik, in der sie als Übersetzerin arbeitet, als Spitzel gilt. Wie ihr gekündigt wird und sie, weil sie kein Arbeitszimmer mehr hat, im Treppenhaus auf einem Taschentuch sitzend weiter übersetzt.

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Später als Aushilfslehrerin dann verstummt das Lehrerzimmer immer, wenn sie es betritt. Sie ist unschuldig und wird doch geächtet, fühlt sich einsam, aber auch frei. Von der Unmöglichkeit eines Rückzugs ins Private ist da zu lesen. Selbst in der eigenen Wohnung ist sie nicht sicher. Wenn sie heimkommt, hat die Securitate dem am Boden liegenden Fuchsfell den Schwanz abgeschnitten, ein paar Tage später auch die Beine, um ihr zu zeigen, dass jemand in ihrer Wohnung war, um Angst zu schüren.

Das Schreiben wurde für Herta Müller zur Überlebensstrategie

Immer wieder hat Herta Müller über diese verstörenden Ereignisse geschrieben und darüber, wie das Schreiben ihr weit über das Leben im Totalitarismus hinaus zur Überlebensstrategie wurde. „Ich lebte 30 Jahre in der rumänischen Diktatur Ceauşescus, bis ich 1987 nach Deutschland kam. Von dort habe ich so viel gestohlene Lebenszeit mitgebracht, dass ich dies bis heute zurück stehlen muss, indem ich davon erzähle“, heißt es in ihrer Rede zur Verleihung des Ordens Pour Le Mérite (2022). Die Mechanismen der Unterdrückung zu beobachten, etwas anderes bleibe einem ja in der Unterdrückung nicht übrig, wie sie an einer anderen Stelle schreibt, sei wie eine „Spiegelschrift der Freiheit“ zu entziffern.

Aber Herta Müller ist eine zu exzellente Schriftstellerin und eine viel zu wichtige Stimme, als dass sie es mit der Schilderung ihres eigenen Lebens genug sein ließe. Deswegen lohnt sich am Ende die Lektüre ihrer Reden doch.

Weil sie immer wieder hoch aktuelle Themen anspricht wie Migration, Exil oder die Gefahr von Ideologien, die aus „sprechenden Menschen das Gegenteil von sprechenden Menschen“ machen. Nicht verstehen kann sie, dass ausgerechnet osteuropäische Länder heute so tun, als gehöre Flucht nicht zu deren Geschichte. Obwohl nach dem Ungarnaufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968 weit mehr als 200.000 Ungarn und 400.000 Tschechen in den Westen geflohen sind.

Die Schriftstellerin bezieht klar Stellung

„Gerade die Spaziergänger, die sich in Dresden nicht genieren, nach Putin zu rufen, müssten das wissen. Mit dem Mauerbau hat die DDR der Flucht doch ein zynisches Denkmal gesetzt“, schreibt Herta Müller 2015 in ihrer Rede zur Verleihung des Heinrich-Böll-Preises zu einer Zeit, als die Flüchtlingsdebatte einen Höhepunkt erreichte. Die Schriftstellerin bezieht klar Stellung: „Krieg ist ein politischer Feind, und Kriegsflüchtlinge sind politisch verfolgt und jeder einzelne braucht Schutz. Dieser Schutz kann nicht begrenzt werden, nur weil ihn so viele brauchen.“

Herta Müller: Eine Fliege kommt durch einen halben Wald. Hanser, 126 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-446-27848-6