Essen. Der große deutsche Schriftsteller Martin Walser ist in der Nacht zu Freitag im Alter von 96 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

Martin Walser war der Methusalem der deutschen Nachkriegsliteratur, ihr letzter Großschriftsteller. Sein Schreiben hat sich auf der langen Strecke seines Lebens so oft und so sehr gewandelt, dass sein Werk nicht auf den einen Begriff zu bringen ist. Am ehesten war er, der sich selbst zeitlebens immer ähnlicher wurde, der Chronist des bürgerlichen Seelenlebens, sein Schreiben war Seelenkampf, ja unablässige „Seelenarbeit“, wie nicht von ungefähr einer der besten seiner gut zwei Dutzend Romane heißt. Im Alter von 96 Jahren ist Walser nun gestorben.

Walser kannte dieses Terrain der Romane in- und auswendig, auch jene zum Gewissen gewordene Anspruchshaltung einer aburteilenden Gesellschaft, die bis zum Ichverlust führen kann, kannte das als „literarischer „Experte für Identitätsbeschädigung“, wie er es im Essay „Wer ist ein Schriftsteller?“ nannte, er kannte das wirkliche und das gefühlte Scheitern, das unablässige Ringen um die eigene, wahre Stimme in einem zentrifugal bewegten Bewusstsein voller Gegensätze.

Der Schriftsteller Martin Walser kurz vor seiner Lesung 2014.
Der Schriftsteller Martin Walser kurz vor seiner Lesung 2014. © dpa | Felix Kästle

Er passte sich an, „vor lauter Angst, Schwäche und Gefallsucht“, so heißt es einmal in einem langen literarischen Selbstgespräch: Er erfüllte Erwartungen, „die einander nach geltendem Urteil widersprachen“. All die doppelten Böden der Normalität im Alltag: Walser hat sie abgeklopft, kannte sich aus darin, ließ uns davon wissen. Sinnbild der bürgerlichen Selbstverkrampfung: In „Jenseits der Liebe“ wacht der Held Franz Horn mit aufeinandergebissenen Zähnen auf, die sich nicht mehr lösen lassen. Lesen Sie hier: Martin Walser: „Sprachlaub“ als Einblick in ein langes Leben

Gesellschaftsromane der frühen „Bunzreplik“

Frank Schirrmacher hatte gar Mitleid mit dem Personal des Schriftstellers: „Niemand ist zu beneiden, der morgens als Walserscher Held im Bett aufwacht.“ Die Anspielung auf die „Verwandlung“ von Franz Kafka, über den Walser promoviert hatte, weiß auch davon, dass Walser das Ungeheure, ja Groteske in der bürgerlichen Mittelschicht nicht nur im Wirtschaftswunder, sondern auch in den Jahrzehnten danach zu schildern wusste. Anfangs mit seinem Romandebüt „Ehen in Philippsburg“ und der Anselm-Kristlein-Trilogie hatte er es auf Gesellschaftsromane der „Bunzreplik“ angelegt, was bis zum „Sturz“ von 1973 ein recht kontinuierliches Werk ergibt. Die Selbstüberschätzung der Literatur, für Gesellschaftsveränderung zuständig zu sein, hatte sich bei Walser allerdings früh in eine Beschränkung auf Bewusstseinsarbeit gewandelt. Auch interessant: Martin Walser erzählt in einem Roman von allem – und #MeToo

Krude Würdigung eines Nazi-Kriminellen

Seine politische Biografie schien denn auch mit etwas Verspätung Churchills Diktum noch zu radikalisieren, wonach kein Herz hat, wer mit 20 kein Kommunist ist -- und keinen Verstand, wer mit 40 noch einer ist. Seine Sympathien für die DKP währten bis in die 60er- und frühen 70er-Jahre, bevor er dann in seinem Beklagen der deutschen Teilung, als Gastredner der CSU in Wildbad Kreuth Anfang 1989, in flachen Prosawerken wie „Dorle und Wolf“ oder „Die Verteidigung der Kindheit“ oder in dem Essay-Band „Über Deutschland reden“ Ausfallschritte nach rechts unternahm, auch in einer kruden Würdigung des Nazi-Kriminellen Leo-Albert Schlageter.

Der wochenlange Meinungskrieg, den Walser ausgerechnet mit seiner Dankesrede beim Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998 auslöste, beruhte indes auf einem Missverständnis, das in der Frankfurter Paulskirche noch nicht aufkam, weil Walser dort seine „Gedanken beim Verfassen einer Sonntagsrede“ gestisch und rhetorisch als Fragen, als intellektuelle Versuchsballons markiert. Walser hasste die Rituale der deutschen Geschichts-Aufarbeitung, ihre mögliche Leere, zumal bei äußerlichem Gigantismus (wie im Berliner Holocaust-Mahnmal) und Eignung zur „Moralkeule“.

Walsers Charakter war zwiespältig

Einmal mehr offenbarte sich hier Walsers sehr zwiespältiger Charakter: Einerseits die Sehnsucht vieler seiner Helden mit der Devise „Kauere dich, bis du nicht mehr treffbar bist“, andererseits der Drang, sich um der Wahrheit willen zu exponieren, was ihn beinahe das Abitur gekostet hätte, als er zur Abschlussfeier ein 120-Strophen-Gedicht voller Rachegedanken gegen die lehrenden Quälgeister vortrug. Auch Walsers Schreiben war ein Auf und Ab: Dem blutleeren, maximal selbstmitleidigen „Jenseits der Liebe“ folgte die geradezu altmeisterliche Novelle „Ein fliehendes Pferd“ – sein erster Bestseller, der ihn zum Autor mit Erfolgs-Abonnement werden ließ. Und den vielen Romanen um Altmänner-Sexualität in späteren Lebensjahren folgte der grandiose, sublime Goethe-Roman „Ein liebender Mann“, der Walsers letztes Meisterwerk bleiben sollte.

Dass Marcel Reich-Ranicki, dessen Kritik Walser oft als ungerecht empfand, seinem Kindheitserinnerungs-Roman „Ein springender Brunnen“ vorgehalten hatte, er klammere Auschwitz aus, obwohl er in der Nazizeit spielt, war wohl eine solche Keule, geschnitzt aus einem Roman-Ideal des 19. Jahrhunderts und im Wissen um maximale Wirksamkeit. Wie Walser sich mit der übel verkorksten, klischeeprallen Pseudo-Satire „Tod eines Kritikers“ rächte, was nicht minder maßlos – ein Skandal zudem, in dem die FAZ dafür sorgte, dass das Buch veröffentlicht werden musste, bevor das Lektorat abgeschlossen war, in dem noch so manche parodistische Entgleisung getilgt werden sollte.

Lebenslang ein glaubenwollender Zweifler geblieben

In enger dörflicher Gemeinschaft grundkatholisch erzogen, nannte Walser den Gang zur Beichte, der ihm als Kind aufgezwungen wurde, den „Anfang der Scheinheiligkeit bei mir“. Gleichwohl wandte er, der auch souverän mit der Offenbarung umging, dass er neben seinen vier Töchtern Franziska, Johanna, Alissa und Theresia in Jakob Augstein auch noch einen prominenten leiblichen Sohn hatte, als Folge eines Seitensprungs mit Rudolf Augsteins dritter Frau Maria Carlsson, sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt auch in Romanen und Erzählungen zunehmend religiösen Fragen und Lebensfacetten zu. Gelegentlich in all seinem heiligen Ernst auch unfreiwillige Komik riskierend, ein letztes Mal völlig unerschrocken im Ausprobieren von Perspektiven und Denkschritten. Er blieb zeitlebens ein glaubenwollender Zweifler: „Auch wenn es Gott nicht gibt, dann fehlt er mir. Deswegen könnte ich nie Atheist werden. Mir fehlt Gott. Es wäre toll, wenn es den gäbe.“

Das Fehlende aber hat Martin Walser so vielseitig ausgelotet wie kein Zweiter, er hat Leerstellen des eigenen Lebens umkreist und ein gesellschaftsweit verbreitetes Vakuum darin entdeckt. Er hat es seinen Heldinnen und Helden zur Last gelegt, damit sie sich an seiner Stelle damit herumschlugen. So werden sie für immer kämpfen. Martin Walser aber, der im Alter von 96 Jahren gestorben ist, hat seinen Frieden gefunden.