Berlin. Hinter Symptomen wie Schwindel und Schmerzen kann eine bestimmte Störung stecken. Die richtige Diagnose wird oftmals nicht gestellt.
Neurologische Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer oder Schlaganfälle gelten meist als Erkrankung des Alters, immer wieder sind aber auch junge Menschen betroffen. In der Serie „Die Hirn-Docs“ der Funke Tageszeitungen klären fünf Experten der Deutschen Hirnstiftung über die neusten Erkenntnisse in der Neurologie auf.
Sehr belastend sind dabei sogenannte funktionelle Störungen, also Erkrankungen, die das Leben, den Alltag und das Wohlbefinden der Betroffenen langfristig erschweren. Häufig erfolgt die richtige Diagnose gar nicht oder viel zu spät. In einem Gastbeitrag erklärt Prof. Dr. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung, woran man funktionelle Störungen erkennt, wie sich die Symptome äußern und welche Therapieformen es gibt.
Tipp: Wenn Sie eine Frage rund um das Thema funktionelle Störungen haben, gibt Prof. Erbguth gerne Antwort! Senden Sie uns einfach Ihre Frage per Mail an hirn(at)funkemedien.de. Die Einsendungen werden zunächst gesichtet und gegebenenfalls publiziert, dann natürlich in anonymisierter Form.
Funktionelle Störungen: Krank trotz unauffälligen Befunden
Bei funktionellen neurologischen Störungen (FNS) handelt es sich um eine gestörte Funktion des Nervensystems. Heißt: die Betroffenen haben unterschiedliche Symptome und Beschwerden, ohne dass definierte Erkrankungen oder eine spezifische Schädigung des Nervensystems vorliegen. Die Betroffenen sind zwar krank, aber in einer Vielzahl von Untersuchungen zeigen sich normale Befunde.
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Prof. Dr. Frank Erbguth: „Diese Störungen werden bis heute vom sozialen Umfeld, manchmal auch von Medizinern, nicht ernst genommen. Auch wissenschaftlich wurden sie lange vernachlässigt, was sich aber in den letzten Jahren verändert hat.“ Heute können funktionelle Störungen gut diagnostiziert werden, therapeutische Ansätze gibt es ebenfalls.
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Funktionelle Störungen: Vielseitige Symptome und Beschwerden
Eine FNS kann zu nahezu allen denkbaren neurologischen Symptomen führen, am häufigsten sind funktionelle Paresen (Schwäche, Lähmungen) und Gefühlsstörungen (Kribbeln, Missempfindungen, Überempfindlichkeit, Taubheit), genauso wie funktionelle Bewegungsstörungen (z.B. Gangstörungen, Zittern/Tremor, Muskelverkrampfungen/Dystonie, Muskelzuckungen/Tics, Verlust der Bewegungskontrolle, Stürze) und Schwindel.
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Aber auch Seh- und Hörstörungen sowie Schluck- und Sprachstörungen sind möglich. Hinzu kommen häufig Begleitbeschwerden wie übermäßige Erschöpfung (geistig und körperlich), Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, Schlafstörungen, Ängste und Schmerzen. „Nicht jeder hat alles, aber die meisten Betroffenen haben mehrere dieser hier aufgezeigten Symptome“, erklärt Dr. Stoyan Popkirov von der Universitätsklinik für Neurologie in Essen, der FNS erforscht und Fachbeiratsmitglied der Deutschen Hirnstiftung ist.
Die Symptome kommen und gehen und wechseln sich gegebenenfalls ab. Es gibt auch spontane Besserungen oder Heilungen, häufiger ist jedoch ein dauerhafter Zustand mit typischerweise „guten und schlechten Tagen“.
FNS: Ursachen nicht immer eindeutig benennbar
Im heutigen Verständnis der FNS spielen sowohl körperliche als auch emotionale Belastungen für die Entstehung eine große Rolle. Die meisten funktionellen neurologischen Störungen haben eins gemeinsam: eine Wahrnehmungsverzerrung und meist gestörte Bewegungskontrolle. Die Symptome entstehen durch eine fehlerhafte neuronale Informationsverarbeitung (Netzwerkstörung bzw. „Fehlanpassung“). Ein häufiger Vergleich ist der Software- bzw. Programmfehler bei intakter Hardware.
Die Wahrnehmungsschwelle für bestimmte Körpersignale ist bei den Betroffenen herabgesetzt und bereits geringe Reize lösen Körperreaktionen wie Missempfindungen, Schmerz, Schwindel oder Verkrampfungen aus. „Der Lautstärkeregler des Körpers ist sozusagen hochgedreht und lässt sich nicht zurückdrehen“, so Popkirov.
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Risikofaktoren für FNS: Psychische Aspekte überwiegen
Also Risikofaktoren kommen gleich mehrere Punkte infrage:
- Veranlagung und persönliche Neigung (Menschen, die besonders ängstlich sind und zur Körperbeobachtung neigen, leiden öfter als andere an funktionellen Beschwerden.)
- psychische Störungen (z.B. Angststörungen, Depressionen)
- emotionale Belastungen, besondere belastende Lebensereignisse, posttraumatische Belastungsstörung
- frühe krisenhafte und problematische Kindheitserfahrungen
- andere neurologische Erkrankungen (z.B. Migräne, Epilepsie, Parkinson)
Diagnostik wird immer besser
Das neue Erklärungsmodell führte in den letzten 20 Jahren dazu, dass Diagnosemöglichkeiten und -kriterien systematisch verbessert wurden. Auch wenn so heute grundsätzlich eine sichere Diagnostik möglich ist, so ist die klare Zuständigkeit zwischen den Fachgebieten Neurologie, Psychiatrie, Psychosomatik und der Innere Medizin nicht geklärt. Das macht es für die Betroffenen schwierig, die korrekte Diagnose überhaupt erst zu erhalten.
Nicht selten haben sie bis dahin eine „Arztbesuch-Odyssee“ hinter sich, die zusätzlich zu den Symptomen eine Belastung und Stigmatisierung bewirkt haben kann (d.h. Fehldiagnosen, Abweisung, sich nicht ernst genommen fühlen, Verzweiflung und Hilflosigkeit).
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Die Grundlage der Diagnostik bildet die Anamnese und die klinische Untersuchung. Ergänzende Labordiagnostik, Tests oder Bildgebung sind nur bei bestimmten Fällen notwendig, etwa wenn gleichzeitig Hinweise auf andere neurologische Erkrankungen vorliegen). Die Diagnose erfolgt in den meisten Fällen dann anhand spezifischer Untersuchungen. Prof. Erbguth: „Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung ist wichtig, denn ohne gezielte Therapie werden funktionelle Lähmungen zu ca. 50 Prozent chronisch.“
Behandlung: Mehrere Ansätze gleichzeitig sind der Schlüssel zum Erfolg
Die Behandlung erfolgt multidisziplinär und wird jeweils auf die Symptomatik und Situation der Betroffenen abgestimmt. Begleiterkrankungen (wie Depressionen, Angst, Schlafstörungen, Schmerz) oder spezifische Traumafolgestörungen werden dabei zusätzlich berücksichtigt. Dabei kann auch eine medikamentöse Therapie hilfreich sein. Spezifische medikamentöse Therapien gegen FNS selbst gibt es dagegen noch nicht.
In den meisten Fällen ist eine begleitende Psychotherapie essenziell. Dabei werden u. a. die individuellen Symptome thematisiert und gegebenenfalls bearbeitet. So wird zum Beispiel ergründet, ob wiederholte Körpererfahrungen bei der Störung eine Rolle spielen (Körpergedächtnis) oder ob die Symptome der Versuch einer Bewältigung (Schutz) oder Gemüts- bzw. Ausdrucksbewegungen sind.
Eine grundlegende Therapiesäule ist die Psychoedukation. Dabei arbeiten die Betroffenen an ihrer Wahrnehmung und Krankheitsverständnis, sehen die Erkrankung aus unterschiedlichen Blickwinkeln und können so ihr eigener Therapeut werden. Auch körperliche Therapien kommen zum Einsatz. Erbguth: „Funktionelle neurologische Störungen äußern sich in körperlichen Beeinträchtigungen, daher erfordern sie auch eine Therapie am und mit dem Körper.“
Eine spezielle an den Beeinträchtigungen orientierte Neurophysiotherapie erzielt bessere Ergebnisse als eine Standard-Krankengymnastik. Während es bei anderen neurologischen Erkrankungen darum geht, die gestörte Funktion zu trainieren (z.B. das erkrankte Bein), so besteht der Unterschied der Physiotherapie bei FNS darin, den Aufmerksamkeitsfokus von den Symptomen weg zu lenken – hin zu gut funktionierenden physiologischen Bewegungsmustern.
Visuelles Feedback (Spiegel oder Videoaufnahme) kann zusätzlich helfen. So können die Betroffenen realisieren, dass sich die Symptome tatsächlich verändern, sei es direkt oder über einen längeren Zeitraum.
„Wichtig ist das Verständnis, dass die Symptome von den Patienten nicht vorgespielt oder eingebildet sind. Es handelt sich bei funktionellen neurologischen Störungen auch nicht um eine ‚Verlegenheitsdiagnose‘, etwa weil die wahre Ursache nicht gefunden wurde, sondern um eine eigenständige und ernstzunehmende Krankheit, die oft chronisch verläuft“, erklärt Prof. Erbguth.