Hamburg. Sima Aghajamali sah im Iran keine Zukunft in ihrem Beruf. Nun startet sie in Hamburg durch – doch der Weg dorthin war nicht leicht.
Das ist Millimeterarbeit. Sima Aghajamali steht mit einer Spritztüte vor einem Kuchenblech und appliziert in sanften Bögen eine weiße Baisermasse auf Zitronentörtchen. Jedes Mal, wenn wieder eins in der Reihe fertig ist, guckt sie prüfend. Kurz vorher hat sie die Meringue-Creme mit einer Kollegin in einer großen Rührmaschine der Konditorei der Kaffeehaus-KetteCopenhagen Coffee Lab in Hamburg-Stellingen zubereitet.
Zucker, Eiweiß, eine Prise Salz – die Mischung muss exakt stimmen, sonst fällt alles in sich zusammen. So oft hat die 35-Jährige das noch nicht gemacht. „In meiner Heimat im Iran haben wir anderes Gebäck“, sagt sie und lächelt zurückhaltend. Im Moment ist vieles neu für die gelernte Konditorin aus Teheran.
Seit drei Monaten ist sie in Hamburg. Ganz offiziell, über die Fachkräfte-Einwanderung mit den entsprechenden Papieren. Ein besonderer Glücksfall in einer Branche, in der gute Leute kaum zu bekommen sind. Bevor Sima Aghajamali aber im März dieses Jahres ins Flugzeug nach Hamburg steigen konnte, war es ein weiter Weg. Dafür, dass sie jetzt wirklich hier ist, haben viele Menschen viel getan. Ihr Fall gibt einen Eindruck davon, wie kompliziert, langwierig und bürokratisch das Verfahren im Moment ist.
Fachkräfte im deutschen Handwerk dringend gesucht
Fast vier Jahre ist es her, dass Sima Aghajamali sich entschlossen hatte, ihre Heimat zu verlassen. Es ist keine Flucht. „In meinem Beruf“, sagt sie, „gibt es im Iran keine Zukunft für mich“. Das hat mit der wirtschaftlichen Situation in der Islamischen Republik zu tun, mit Politik, Religion und der Lage der Frauen. In Deutschland, das wusste sie, werden Fachkräfte gebraucht. Konditorinnen wie sie.
Sima Aghajamali bringt eigentlich alles mit, was man dafür braucht. Schon als Kind habe sie es geliebt zu backen, erzählt sie in gutem Deutsch. Trotzdem studierte die junge Iranerin zunächst Geografie. Doch sie habe schnell gemerkt, dass der Beruf nichts für sie ist.
Sie machte ein Praktikum in einer Bäckerei und absolvierte danach in Teheran eine zweijährige Ausbildung in ihrem Traumberuf – wie im Iran üblich an einer Universität mit Theorie- und Praxis-Anteilen. Aber Sima Aghajamali wollte mehr, belegte parallel Kurse über die Zubereitung anderer, auch europäischer, Backwaren.
Arbeiten in der Backstube in Teheran: Allein unter Männern
Um Geld zu verdienen, jobbte sie im Café. „Da hatte ich jeden Tag Probleme, weil ich nur mit Männern zusammengearbeitet habe. Lachen war nicht erlaubt“, sagt sie. Genauer möchte sie nicht werden. Schließlich kündigte die Gebäckexpertin, produzierte mit einem Freund in ihrer Küche Müsli und Proteinriegel für ein Fitness-Center und gab Back-Unterricht für andere. „Aber für mich ging es nicht weiter. Ich wollte mehr“, sagt Sima Aghajamali.
Sie informierte sich im Internet über die Möglichkeiten, in Deutschland zu arbeiten, und gelangte so zur Auslandsvermittlung der Arbeitsagentur und zur Hamburger Anerkennungsstelle für handwerkliche Berufe, die bei der Handwerkskammer angesiedelt ist. Mit Feuereifer fing sie an, Deutsch zu lernen. Das war 2020, kurz nachdem das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz in Kraft getreten war.
„Ich musste Unterlagen und Zeugnisse einreichen und vorher übersetzen lassen“, erinnert sich Aghajamali. Nach ungefähr neun Monaten, sagt sie, kam der Anerkennungsbescheid für ihren Berufsabschluss aus Hamburg. 450 Euro Gebühren wurden fällig. Der erste Schritt. Was fehlte, war ein Job.
Copenhagen Coffee Lab expandiert in Hamburg
Zufall oder nicht? 2019, im Jahr, in dem Sima Aghajamali den Entschluss zur Auswanderung fasste, hatte in Hamburg die aus Dänemark kommende Kaffeehaus-Kette Copenhagen Coffee Lab den ersten Standort eröffnet. Das Angebot kam gut an, das junge Unternehmen wuchs trotz Corona-Pandemie. Und ist bis heute auf Expansionskurs. Im März dieses Jahres hat die neunte Filiale in der Fuhlsbüttler Straße eröffnet.
Weitere, etwa in Winterhude, sind in Planung. Damit wachsen auch die Mengen an Brot und Kuchen, die in der Backstube in Stellingen täglich frisch produziert werden. „Die größte Herausforderung ist, qualifiziertes Personal zu finden. Das ist fast unmöglich geworden“, sagt Jan-Ole Hoffmann, Geschäftsführer von Copenhagen Coffee Lab in Hamburg.
Über die Arbeitsagentur und die Anerkennungsstelle, offizieller Name Servicestelle Handwerk und Migration, ergab sich der erste Kontakt zu Sima Aghajamali, die inzwischen verzweifelt einen Job in Deutschland suchte. Inzwischen war es Anfang 2022. „Es gab eine Videokonferenz. Alles auf Deutsch. Ich war total beeindruckt von Sima“, sagt der 44-Jährige, der lange als Mode- und Werbefotograf gearbeitet und vor acht Jahren einen Neubeginn mit Konditorlehre und Meisterschule gewagt hat. Ihm war klar: Die junge Konditorin aus Teheran passt zu Copenhagen Coffee Lab. Die Begeisterung war gegenseitig. Eigentlich ein perfektes Match.
Konditormeister kritisiert Bürokratie bei der Jobvergabe
Was beide nicht wussten: Es würde noch mehr als ein Jahr dauern, bis die junge Fachkraft in der Hamburger Backstube starten konnte. Nicht nur Sima Aghajamali musste Urkunden, Zeugnisse, Vollmachten und weitere Unterlagen einreichen und wegen der langen Verfahrensdauer teilweise nochmals neu übersetzen lassen. Auch der künftige Arbeitgeber Jan-Ole Hoffmann sah sich einer „Flut von Anträgen und bürokratischen Anforderungen“ gegenüber, um der junge Iranerin einen Arbeitsplatz in Hamburg zu geben. „Das war im Alltagsgeschäft nicht zu bewältigen“, sagt er.
Erst mit Unterstützung des Hamburg Welcome Centers, der Arbeitsagentur und der Anerkennungsstelle konnte er die umfangreichen Erfordernisse wuppen und – und mittels einer Gebühr von 412 Euro – zudem das Verfahren beschleunigen.
Nach Protesten schränkte der Iran das Internet ein
Eigentlich war alles auf einem guten Weg. Aber die politische Situation im Iran wurde nach den Protesten der Frauen für mehr Rechte und Freiheit immer angespannter. Sima Aghajamali war plötzlich nicht erreichbar. „Ich konnte das Internet nicht mehr nutzen“, erinnert sie sich an die Tage im Herbst 2022. Als einziger Kommunikationsweg blieb ein Mailkontakt über ihre Cousine in England.
Und nicht nur das: Nachdem im Januar dieses Jahres endlich alle Papiere beisammen waren, kam der nächste Dämpfer: Die deutsche Botschaft in Teheran erkannte ihr Deutschzertifikat nicht an, das für das Arbeitsvisum unerlässlich ist.
Vielleicht war es das Gefühl einer letzten Chance oder pure Verzweiflung: Innerhalb von Tagen machte die junge Iranerin eine neue Prüfung für den notwendigen A2-Sprachlevel – und bestand auf Anhieb. Am 13. März konnte sie in ihrer Heimatstadt abfliegen. „Ich hatte solche Angst, dass es nicht klappt“, sagt Sima Aghajamali, und dabei steigen ihr auch jetzt noch die Tränen in die Augen, so groß ist die emotionale Anspannung.
Handwerk in Hamburg: 2022 wurden 187 Anerkennungsbescheide erteilt
Insgesamt wurden in Hamburg im Jahr 2022 187 Anerkennungsbescheide im handwerklichen Berufen erteilt, heißt es bei der Servicestelle Handwerk und Migration. Etwa ein Drittel davon sind an Personen versendet worden, die noch im Ausland lebten. Das sind so viele wie noch nie, aber angesichts des Bedarfs immer noch viel zu wenig.
„Die Pandemie hatte den Prozess ausgebremst, weil es weltweit fast keine Möglichkeit gab, Deutsch zu lernen und die Betriebe im Lockdown auch sehr zurückhaltend waren, Personal einzustellen“, sagt die Leiterin der Anerkennungsstelle, Johanna Reutter. Das ändere sich aber jetzt.
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Das wäre gut. Denn auch die Zahl der Fachkräfte und Auszubildenden, die über die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2022 nach Hamburg ist mit 37 sehr überschaubar. „Ob im Handwerk, im Pflege- und Medizinbereich, in der IT-Branche oder der Gastronomie: Jede ausländische Fachkraft, die sich für eine Beschäftigung bei uns entscheidet und einen Job antritt, ist ein Gewinn für den Wirtschaftsstandort Hamburg“, betont der Chef der Arbeitsagentur Hamburg, Sönke Fock.
Er sagt aber auch: „Wichtig ist, dass die Formalitäten der Anerkennungsverfahren deutlich schneller werden.“ Das Thema sorgt schon länger für Debatten. Am Freitag sind im Bundestag Veränderungen und Erleichterungen bei der Einwanderung von Fachkräften beschlossen worden.
Handwerk bietet der jungen Iranerin Karrierechancen
Sima Aghajamali hat es geschafft. Trotzdem, möchte man fast sagen. Sie ist die erste Konditorin, die über das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz aus dem Iran nach Hamburg gekommen ist. Es ist nicht übertrieben, sie eine Pionierin zu nennen. „Wir brauchen die Fachkräfte-Einwanderung, aber das Verfahren ist für die Betriebe zu langwierig und zu bürokratisch“, sagt ihr Chef Jan-Ole Hoffmann von Copenhagen Coffee Lab und bedankt sich ausdrücklich bei allen, die geholfen haben. „Die Betriebe müssen Unterstützung bekommen.“
Dabei ist der Weg der iranische Konditorin noch nicht zu Ende. Noch ist sie in einer sogenannten Anpassungsqualifizierung, bekommt noch nicht das volle Gehalt. Ende des Jahres ist das abgeschlossen. „Es läuft gut, sie kommt mit deutschen Rezepten und Regelungen schon klar“, sagt der Konditormeister. Klar, dass er sich wünscht, dass sie bleibt.
Auch Sima Aghajamali sagt: „Die Arbeit ist gut.“ Sie wohnt mit ihrer Schwester, einer Krankenpflegerin, die sogar noch vor ihr über das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz nach Hamburg gekommen war, und deren zwei Kindern zusammen. Noch fehlen ihr private Kontakte, sagt sie. Aber in der Konditorei bringt sie schon eigene Backideen ein. So hat sie mit Rhabarber und Granatapfel experimentiert. Seit einigen Tagen sind ihre Törtchen mit der neuen Mischung in den Filialen. „Hier werden mir Chancen für meine Karriere gegeben“, sagt die Konditorin aus dem Iran. Und allen Kunden ein neuer Geschmack.