Hamburg. Warum die Unternehmen in der Hansestadt gute Chancen haben, besser davonzukommen als die deutsche Volkswirtschaft insgesamt.

Rezession – das ist für viele Menschen noch immer ein Schreckenswort. Man verbindet damit Kurzarbeit, Massenarbeitslosigkeit und viele Firmenpleiten. Für Volkswirte aber ist es eine formale Definition: Wenn die Wirtschaft in zwei Quartalen hintereinander schrumpft, sprechen die Experten von einer Rezession.

Nachdem sich das Bruttoinlandsprodukt sowohl im Schlussvierteljahr 2022 als auch im ersten Quartal 2023 verringert hat, ist Deutschland nach diesem Kriterium in eine Rezession gerutscht, obwohl sich das für die meisten Hamburger kaum so anfühlen dürfte. Und tatsächlich bleiben Wirtschaftsexperten aus der Hansestadt sehr gelassen, was die Perspektiven für die Unternehmen und die Beschäftigten angeht.

Rezession: „Perspektiven für die deutsche Wirtschaft haben sich zuletzt eingetrübt“

Hier die Einschätzungen und Prognosen von fünf Hamburger Volkswirten:

Carsten Mumm, Chefvolkswirt beim Bankhaus Donner & Reuschel:

„Die Perspektiven für die deutsche Wirtschaft haben sich zuletzt eingetrübt“, sagt Mumm. So seien die Auftragseingänge in der Autoindustrie und im Bausektor eingebrochen „und der private Konsum dürfte im weiteren Jahresverlauf noch durch anhaltend hohe Inflationsraten ausgebremst werden“. Im Jahresmittel werden die Verbraucherpreise um etwa 5,5 Prozent steigen, schätzt Mumm – damit ist er etwas optimistischer als seine Kollegen. „Wir gehen von zwei weiteren Leitzinsanhebungen der Europäischen Zentralbank um jeweils 0,25 Prozentpunkte aus, bevor eine Leitzinserhöhungspause eingeläutet wird“, sagt der Experte. „Unser wahrscheinlichstes Szenario für das Gesamtjahr 2023 ist nur noch eine Stagnation der deutschen Wirtschaft.“

Für 2024 sei mit einem „etwas dynamischeren Wachstum“ von 0,5 bis 1,0 Prozent zu rechnen. Vergleichsweise zuversichtlich ist Mumm für die Unternehmenslandschaft in der Hansestadt. Denn die Hamburger Wirtschaft sei stark durch Dienstleistungen geprägt, was ihr im vorigen Jahr wegen des kräftigen Nachholeffekts in diesem Bereich nach der Corona-Pandemie zu einem mehr als doppelt so hohen Wachstum wie im Bundesdurchschnitt verhalf. „Da Umfragen unter Unternehmen derzeit eine deutlich größere Wachstumsdynamik in Dienstleistungssektoren als im Verarbeitenden Gewerbe belegen, ist auch im laufenden Jahr mit einem überdurchschnittlichen Wachstum in Hamburg zu rechnen“, so Mumm. Während der Handel und die Lagerwirtschaft allerdings aktuell unter einer „geringen globalen Wachstumsdynamik“ litten, werde der Tourismusbereich „weiter stark wachsen“.

Michael Berlemann, Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI):

„Die wirtschaftliche Aktivität kühlt derzeit ab, so wie es zur Bekämpfung der immer noch hohen Inflation auch notwendig ist“, sagt Berlemann. Er rechnet vor diesem Hintergrund mit weiteren Zinsschritten der Europäischen Zentralbank (EZB). Doch bleibe die Inflationsrate, die im Jahresschnitt 2022 bei 6,9 Prozent lag, noch weiter deutlich von EZB-Zielrate von 2,0 Prozent entfernt: „Derzeit rechnen wir mit einem Anstieg der Verbraucherpreise im laufenden Jahr von sechs Prozent.“

Erst 2024 werde sich die Inflation mit 2,8 Prozent wieder an die Zielrate annähern. Damit sei für das nächste Jahr auch eine wieder „günstigere Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts“ zu erwarten. Trotz der Rezession wird man nach Einschätzung des HWWI-Direktors „kaum spürbare Arbeitsmarkteffekte sehen“, denn: „Auch in Anbetracht der wachsenden Fachkräfteknappheit sind alle Unternehmen daran Interessiert, ihre Belegschaft zu halten.“ Eine bedrohliche Zunahme der Insolvenzen sei ebenfalls nicht in Sicht. „Das würde erst dann zu befürchten sein, wenn die Rezession längerfristig anhält, wovon wir derzeit nicht ausgehen.“

Carsten Klude, Chefvolkswirt beim Bankhaus M.M. Warburg:

„Einen so starken Rückgang der Staatsausgaben wie im ersten Quartal 2023 hat es seit der Wiedervereinigung nicht gegeben“, sagt Klude. Weil damit praktisch ein „Sondereffekt“ für die Rezession verantwortlich sei, „bin ich wegen ihr nicht sehr besorgt“, fügt der Konjunkturexperte an. Insbesondere rechnet er nicht mit einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosenzahlen: „Wegen des Fachkräftemangels ist der Arbeitsmarkt extrem robust.“ Allerdings bleibe im Hinblick auf die Wirtschaft festzuhalten: „Wir befinden uns in einer Stagnationsphase.“ Dazu habe auch der steile Anstieg der Inflationsrate beigetragen. „Der Höhepunkt der Teuerung liegt aber auf jeden Fall hinter uns“, ist Klude sicher. „Darauf deuten zum Beispiel die Großhandelspreise hin.

Zum Jahresende dürfte die Inflationsrate nur noch bei 3,0 bis 3,5 Prozent liegen.“ Damit, so der Experte, „kämpfen die Notenbanken eigentlich den Kampf der Vergangenheit“. Dennoch dürften nach Einschätzung von Klude noch zwei Leitzinsanhebungen von je 0,25 Prozentpunkten bevorstehen – bevor die Zinsen dann im kommenden Jahr sogar wieder sinken könnten. Wie Klude glaubt, hat Hamburgs Wirtschaft durchaus Chancen, auch 2023 besser abzuschneiden als die deutsche Volkswirtschaft insgesamt: „Im Dienstleistungssektor, der hier große Bedeutung hat, hält sich die Stimmung besser als in der Industrie, außerdem sind in diesem Sektor die Nachholeffekte nach der Pandemie immer noch stärker als im Verarbeitenden Gewerbe.“

Holger Schmieding, Chefvolkswirt beim Bankhaus Berenberg:

Auch für Schmieding ist der starke Rückgang der Staatsausgaben für Corona-Impfungen und -Tests die maßgebliche Ursache für die Schrumpfung der deutschen Wirtschaft im ersten Quartal: „Sonst hätte es ein Wachstum um 0,75 Prozent gegeben“.

Zwar werde das Ende der Befürchtungen über eine Gasknappheit und eine Erholung der Realeinkommen – weil Gehaltssteigerungen höher ausfallen als die Inflation – für ein leichtes Wirtschaftswachstum im zweiten Halbjahr sorgen. Insgesamt aber rechnet Schmieding mit einem Minus des Bruttoinlandsprodukt von 0,4 Prozent in diesem Jahr, im kommenden Jahr gehe es dann um 1,3 Prozent nach oben. Trotz des für 2023 erwarteten Rückgangs der Wirtschaftsleistung sei die Arbeitslosenquote aktuell geringer als im Herbst 2022 und sie werde im Jahresverlauf sogar noch leicht sinken.

Rezession: Wachstum von „um die 1,0 Prozent“ erreichbar

Jochen Intelmann, Chefvolkswirt bei der Haspa:

Neben den Staatsausgaben sei im ersten Quartal auch der private Konsum zurückgegangen, weil die Verbraucher durch die noch immer hohen Preissteigerungsraten belastet würden, erklärt Intelmann. „Zudem ist die Stimmung im industriellen Sektor schlecht“, sagt der Experte. Für das Gesamtjahr sei allenfalls noch mit einer „roten Null“ für die Wirtschaftsleistung im Vergleich zum Vorjahr zu rechnen. Damit befinde sich die Volkswirtschaft in einem Zustand, den die Fachleute „Stagflation“ nennen – Stagnation bei gleichzeitiger Inflation.

2024 ist laut Intelmanns Prognose wieder ein Wachstum von „um die 1,0 Prozent“ erreichbar. Dafür werde sich die Preissteigerungsrate von gut sechs Prozent im Jahresdurchschnitt 2023 auf nur noch 2,5 Prozent abschwächen. Im Unterschied zu manchen früheren Rezessionen muss man sich, wie Intelmann sagt, diesmal nicht vor Massenarbeitslosigkeit sorgen: „Der Arbeitsmarkt ist ziemlich gut ausgelastet, und das dürfte wegen des Arbeitskräftemangels auch so bleiben.“ Wie viele seiner Kollegen erwartet der Haspa-Chefvolkswirt von der EZB noch zwei Leitzinsanhebungen um je 0,25 Prozentpunkte im Juni und Juli. „Das dürfte es dann auch gewesen sein“, sagt Intelmann. „Aber bei solchen Zinssätzen rechnen sich für die Unternehmen viele Investitionen, die man in früheren Jahren begonnen hätte, jetzt nicht mehr.“