Hamburg. Sneakerisierung und Online-Shopping setzen den Fachhandel unter Druck. Zahl der klassischen Betriebe in Hamburg im Sinkflug.
„Wir schließen“ steht auf den knallig orangefarbenen Schildern. Seit Wochen hängen sie im Schaufenster der Görtz-Filiale im Phoenix-Center. Alles muss raus, was noch an Sneakern, Stiefeln und Pumps in den Regalen steht. Jetzt endet der Räumungsverkauf im ersten Obergeschoss des Einkaufszentrums in Harburg.
Letzter Verkaufstag war der gestrige. Damit geht nicht nur in dem Shoppingcenter ein Kapitel zu Ende. Görtz zieht sich komplett aus Harburg zurück. Wer in der Region südlich der Elbe künftig ein Paar neue Schuhe bei dem Traditionshändler kaufen will, muss in die Innenstadt fahren, online ordern – oder sich einen anderen Schuhladen suchen.
In Hamburg schließen sieben Görtz-Filialen
Das Geschäft in Harburg ist eines von insgesamt sieben in Hamburg, die das insolvente Unternehmen im Zuge von Sanierung und Übernahme bis Ende Februar dichtmacht. Auch Görtz in Rahlstedt, im Hauptbahnhof, in der Poststraße sowie der Kinderladen im Alstertal Einkaufszentrum, der Cox-Shop in Winterhude und das Outlet in der Brauhausstraße verschwinden in den nächsten Tagen oder sind schon zu. Betroffen ist damit jeder zweite der bislang 14 Standorte in der Hansestadt. Bundesweit schrumpft der Filialist sein Netz um mehrere Dutzend Geschäfte, um den Rest mit einem unbekannten Geldgeber für die Zukunft zu sichern. Mit knapp 80 von zuletzt 160 Filialen will Görtz weitermachen, kündigte Geschäftsführer Frank Revermann in der vergangenen Woche an. Dabei setzt das Unternehmen auf eine zunehmende Verzahnung von Stationär- und Onlinegeschäft. Wie die neue Strategie aussehen soll, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.
Der Überlebenskampf des 1875 gegründeten Unternehmens wirft ein Schlaglicht auf die kriselnde Schuhbranche. Das hat mit Umsatzeinbrüchen während der Hochphase der Corona-Pandemie mit monatelangen Geschäftsschließungen und strengen Hygienevorgaben zu tun, aber nicht nur. Der Schuhhandel ist seit Jahren im Umbruch. Stiefeletten, Pumps und Sneaker werden immer seltener im klassischen Schuhgeschäft gekauft. Dabei machen nicht nur Onlineplattformen wie Zalando, Amazon, Otto & Co. den Fachhändlern Konkurrenz, sondern auch spezielle Sneakerläden wie Snipes oder Footlocker und zunehmend auch Modeketten wie H&M oder Zara, die passend zu ihren Kollektionen auch Schuhe anbieten.
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Die Folge: Immer mehr Fachgeschäfte kommen unter Druck. Gab es nach Angaben des Bundesverbands des Deutschen Textil- und Schuh- und Lederwareneinzelhandels im Jahr 2010 noch 5000 Schuhhändler zwischen Flensburg und Füssen, sind es jetzt nur noch etwa 3000 mit insgesamt 11.000 Geschäften. Auch in Hamburg ist der Schwund nicht zu übersehen.
Schuh Kay hatte Dutzende Standorte in Hamburg geschlossen
In den vergangenen Jahren haben nicht nur kleine, inhabergeführte Fachgeschäfte aufgegeben. Schon bevor Görtz in die Krise geriet, hatte Schuh Kay – traditionsreicher Schuhhändler mit zwei unabhängigen Unternehmenszweigen – im Rahmen von Insolvenzverfahren ebenfalls Dutzende Standorte in Hamburg und Umgebung geschlossen, darunter die prestigeträchtige Filiale am Jungfernstieg. Salamander, wo früher die ganze Familie vom Kleinkind bis zum Großvater mit Schuhwerk versorgt worden war, hat 2020 an der Mönckebergstraße das letzte Geschäft in Hamburg geschlossen. Auch Schuh Elsner, über Jahrzehnte ebenfalls eine feste Institution in der Innenstadt, ist schon seit fünf Jahren verschwunden.
„Die Situation in Hamburg verändert sich dramatisch. Schon jetzt gibt es Stadtteile in Hamburg, in denen es kein Schuhfachgeschäft mehr gibt“, sagt Marko Höhne, der mit Sohn Marcus und Bruder Volker das Schuhhaus Max Hittcher führt. Auch in Rahlstedt sei der Familienbetrieb nach der Schließung der Görtz-Filiale im Januar der letzte klassische Schuhfachhändler. Außerdem betreibt die Familie 13 Shops der Marken Ecco, Gabor und Skechers vor allen in Hamburger Einkaufszentren sowie ein zweites Schuhfachgeschäft in Lübeck. Junior Marcus Höhne kümmert sich nur um den Onlinehandel. „In der Mischung läuft es inzwischen wieder ordentlich“, sagt Marko Höhne.
Schuhe immer häufiger im Internet statt im Geschäft gekauft
Der Trend ist eindeutig: Im Schnitt werden Schuhe immer häufiger im Internet statt im stationären Geschäft gekauft. Laut dem Bundesverband des Deutschen Textil- und Schuh- und Lederwareneinzelhandels kletterte der Onlineanteil bis Ende 2021 auf 41 Prozent. Konkret: Nur noch sechs von zehn verkauften Schuhpaaren gingen im zweiten Corona-Jahr über einen Kassentresen. Aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor. Experten erwarten allerdings nicht, dass sich das Einkaufsverhalten wieder ändert. Dabei ist der Internethandel alles anderes als ein Selbstgänger für die Unternehmen. Mit Retourenquoten von etwa 50 Prozent im Schuhhandel lassen sich nur schwer Gewinne erzielen. „Man muss sich schon überlegen, ob sich das lohnt“, sagt Unternehmer Marko Höhne.
Auf der anderen Seite hatten die Schuhhändler im vergangenen Jahr erneut mit Konsumzurückhaltung im Zuge von Ukraine-Krieg und Inflation zu kämpfen – und mit steigenden Kosten. „Der Markt ist 2022 gewachsen, aber das Umsatzplus ist mit rund zehn Prozent anders als im Fashion-Bereich immer noch unter dem Vor-Corona-Niveau von 2019“, sagt Susanne Eichholz-Klein vom Marktforschungs- und Beratungsinstituts IFH Köln, das jedes Jahr den „Branchenfokus Schuhe“ mit der BBE Handelsberatung herausgibt. Auch zeichne sich ab, dass sich die Zuwächse ungleich verteilen. Während sich große Filialisten, wie etwa Deichmann, über höhere Erlöse freuen dürften, müssen viele kleinere und mittlere Schuhhäuser erneut sinkende Umsätze verkraften. „Der Erfolg ist eine Frage von stetiger Präsenz im Markt und des Online-Anteils im Rahmen eines Multichannelkonzepts“, sagt Handelsexpertin Eichholz-Klein.
Dazu kommt: Das, was im Schuhhandel das i-Tüpfelchen ist, schicke Damen-Pumps zum Ballkleid oder elegante Herren-Lederschuhe fürs Büro, werden weiterhin deutlich seltener gekauft als früher. Wichtigster Schuhtrend bleiben mit einem Marktanteil gut 25 Prozent Sneaker. Sneakerisierung wird das Phänomen, das mehr ist als eine Mode, inzwischen genannt. „Gerade junge Menschen kommen auf der Suche nach den angesagten Modellen meist gar nicht mehr ins klassische Schuhgeschäft, sondern gehen in Spezialläden wie Snipes oder Footlocker“, sagt Axel Augustin vom Bundesverband des Deutschen Textil- und Schuh- und Lederwareneinzelhandels. Auch Wanderstiefel oder Joggingschuhe werden oft nicht im Schuhladen um die Ecke, sondern im spezialisierten Fachhandel gekauft. Dazu kommt: Markenhersteller wie Adidas oder Nike setzen immer mehr auf Direktvertrieb und wollen Handelsmargen lieber selbst behalten. „Wenn von allen Seiten am Markt geknabbert wird, bleibt für den klassischen Schuhhandel immer weniger übrig“, sagt der Branchenkenner.
Handelsberater sieht viele Gründe für Krise bei Görtz
„Diese Entwicklungen haben neben den betriebswirtschaftlichen Ursachen auch zur Krise bei Görtz beigetragen“, sagt Philipp Hoog von der BBE Handelsberatung aus München. Dazu komme, dass zentral geführte Handelsunternehmen den notwendigen regionalen Charakter in breiten Filialnetzen nicht immer konsequent genug in Bezug auf Sortiment, Kundensprache, Ladengestaltung abbilden können. „Mangelnde Kundenorientierung ist in einem solchen Fall ein weiterer Grund für das Scheitern“, so der Leiter der Strategieberatung bei BBE.
Um in einen Laden zu gehen, müsse es für die Verbraucher echte Mehrwerte geben. Das könne der Preis sein, aber auch Qualität, Service, Erlebnis, zusätzliche digitale Angebote wie Videoberatung und Online-Terminvergabe oder auch eine Sortimentserweiterung in Richtung Textilien und Accessoires. „Um in diesem Geschäft auf Dauer wettbewerbsfähig zu sein, braucht es eine klare Profilierung – online wie offline – und damit nachhaltige Mehrwerte für die Zielgruppe, leistungsfähige Prozesse in der Organisation und eine tragfähige Finanzierung“, sagt Hoog.
Auch Christian Bode, Mittelständler mit 200 Mitarbeitern und 25 Geschäften zwischen Bergedorf und Greifswald, sagt: „Die Branche steht vor einem großen Umbruch.“ Nach der schwierigen Corona-Zeit machen seine Läden inzwischen wieder höhere Umsätze, aber sind noch deutlich vom Vor-Krisen-Niveau entfernt. Für sein Unternehmen bleibt er optimistisch und setzt auf Fachberatung sowie ein zielgruppenspezifisches Sortiment. „Unsere Hoffnung ist, dass mit dem Start ins Frühjahr die Konsumstimmung steigt.“ Schon jetzt sei spürbar, dass Kunden und Kundinnen Frühjahrsmodelle und neue Farben nachfragten. „Aber“, sagt der Unternehmer, „auch wir überprüfen unsere Filialen regelmäßig. Dabei kann auch herauskommen, das wir Standorte schließen, wenn die Frequenz nicht stimmt.“