Hamburg. Forscher versuchen in einer neuen Studie, den Wandel Hamburgs bis 2030 vorherzusagen. Die Ergebnisse sind erstaunlich.

Der Wandel der Innenstadt ist bereits in vollem Gange – und nicht für alle Gebäude, die in diesen Tage rund um die Mönckebergstraße leer stehen, umgebaut oder gleich ganz abgerissen werden, ist die Frage schon beantwortet, was dort stattdessen in Zukunft stattfinden wird. Dort, wo das schon feststeht, lautet die Antwort oft: etwas anderes als bisher.

Das Thaliahaus – dem bis vor Kurzem von Karstadt genutzten Gebäude – wird nach dem Abriss der Parkdecks aufgestockt, Wohnungen und Büros sollen entstehen. In den Neubau, der hochgezogen wird, wo bislang das C+A-Haus stand, werden zwei Hotels einziehen, Büros und Gastronomieflächen geschaffen, aber weniger Ladenfläche als zuvor.

Was mit den seit März 2020 weithin leer stehenden oder für Ausstellungen zwischengenutzten Häusern von Karstadt Sport und Kaufhof langfristig geschieht, ist auch drei Jahre nach dem Auszug der Hauptmieter noch unklar.

Hamburg verändert sich: Der stete Wandel der Stadt

Wenn es so kommt, wie Stefan Rettich es vorhersagt, ist das erst der Anfang eines tiefgreifenden Wandels in der Hansestadt in den kommenden Jahren. Rettich ist Professor für Stadtplanung an der Universität Kassel. Er ist mit einem Team von Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen der Frage nachgegangen, wo und wie eine wachsende Stadt wie Hamburg in den kommenden Jahren weiter wachsen kann, obwohl die dafür notwendigen Flächen immer knapper werden.

Die Arbeit an der von der Bosch-Stiftung mitfinanzierten Studie mit dem etwas sperrigen Titel „Raumpotentiale für eine gemeinwohlorientierte, klimagerechte und ko-produktive Stadtentwicklungspraxis in wachsenden Großstädten“ ist beendet, der Abschlussbericht soll Ende März veröffentlicht werden. Die Ergebnisse sind erstaunlich.

„Der Wandel in der Stadt wird nicht unbedingt stärker sein als in der Vergangenheit, aber er wird anders sein“, sagt Rettich. In den zurückliegenden Jahrzehnten habe Hamburg unter anderem große Bahnflächen nutzen können, die nicht mehr benötigt wurden, um dort etwa Wohnungen zu bauen oder Betriebe auf ihnen anzusiedeln. Das prominenteste Beispiel für einen solchen großflächigen Wandel ist die HafenCity. Sie wurde und wird noch dort gebaut, wo früher Hafenanlagen waren, die für den Güterumschlag nicht mehr gebraucht wurden. „Letztlich existieren die Wohnhäuser, Bürogebäude und Geschäftsflächen in der HafenCity nur deshalb, weil der Seecontainer erfunden wurde“, sagt Rettich.

Dititalisierung von Arbeit und Handel: Was wird bald überflüssig sein?

Die Kasseler Wissenschaftler haben nun untersucht, wie die Megatrends Digitalisierung von Arbeit und Handel sowie Verkehrswende und Klimawandel die Mobilität und damit die Stadt verändern können. Die Kernfrage: Was wird bis zum Jahr 2030 überflüssig, kann weg und damit Platz machen für andere Nutzungen?

Keine große Zukunft sieht die Studie etwa für die Kinos in der Stadt. Als die Untersuchung 2020 begann, gab es 28 in Hamburg. Im Jahr 2030 werden nur noch 19 übrig sein, weil Streamingdienste wie Netflix & Co. den Lichtspielhäusern die Zuschauer wegnehmen, prognostizieren die Wissenschaftler. Noch stärker wird sich demnach die schon seit Jahren laufende Schließungswelle bei Bankfilialen fortsetzen. Ihre Zahl dürfte in den nächsten sieben Jahren von 330 auf gut 190 sinken, weil Bankgeschäfte zunehmend digital erledigt werden.

Hamburger Innenstadt: Modegeschäfte trifft es hart

Hart treffen wird der Trend zum Online-Einkauf die Geschäfte für Mode und Accessoires. Die etwa 2700 Läden in der Stadt haben zusammen gut 580.000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Etwa 80.000 Quadratmeter davon aber werden im Jahr 2030 nicht mehr gebraucht und können anders genutzt werden. Und von den etwa 30 Kauf- und Warenhäusern mit mehr als 3000 Quadratmetern, zu denen die Forscher unter anderem auch Geschäfte von C&A, Sport-Scheck oder Woolworth zählen, sind absehbar mindestens vier überflüssig.

„Es ist das, was mindestens passieren wird. Wir haben konservativ gerechnet und die Auswirkungen der Corona-Pandemie noch gar nicht berücksichtigt“, sagt der Stadtplanungs-Professor. Für ihre Untersuchung haben die Wissenschaftler die Trends der vergangenen Jahre für die Zeit bis zum Beginn des kommenden Jahrzehnts hochgerechnet. Tatsächlich dürften in Hamburg mehr als die vier Kauf- und Warenhäuser schließen. Karstadt will demnächst mitteilen, welche Zukunft die fünf Standorte in der Stadt haben.

Mobilitätswende in Hamburg: Jedes zehnte Parkhaus kann weg

Insgesamt weniger Autos in der Stadt und ein sehr viel höherer Anteil von E-Autos – auch das wird sich massiv auswirken. Die Studie sagt voraus, dass mindestens zehn Prozent des öffentlichen Parkraums nicht mehr benötigt wird – zusammen 70 Hektar. Kommt es so, wie es SPD und Grüne in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart haben, wird sogar knapp jeder vierte Parkplatz wegfallen. Von den etwa 160 Parkhäusern können zehn Prozent weg. Planungen für neue Nutzungen laufen bereits. So sollen in dem achtstöckigen Parkhaus an der Neuen Gröningerstra­ße am Rand der City Wohnungen und Büros entstehen. Für Parkflächen am Elbe-Einkaufszentrum gibt es Gedankenspie-­
le, dort ebenfalls Wohnungen zu errichten.

Das Tankstellennetz in der Stadt wird 2030 deutlich weitmaschiger sein, weil es viel weniger Autos mit Benzinmotoren geben wird. Von den 270 Stationen werden knapp 90 geschlossen, so die Prognose. Jedenfalls werden sie nicht mehr gebraucht – ebenso wie ein Teil der Autohäuser. „Bundesweit schließen pro Jahr etwa 600“, sagt Rettich. Die Vorhersage für die Tankstellen stützt sich nicht allein auf Hochrechnungen. In der Studie haben die Wissenschaftler auch speziell den möglichen Wandel in Stellingen untersucht, ortskundige Expertinnen und Experten befragt und unter anderem die Tankstellen-Meile Kieler Straße in den Blick genommen. „Der Manager eines großes Mineralölunternehmens sagte uns: Jede dritte Tankstelle dort ist überflüssig“, so der Professor aus Kassel.

Kirchen verlieren Mitglieder: Wohnungen statt Gotteshäuser

Ein weiterer Wandel in der Gesellschaft wird ebenfalls erhebliche Auswirkungen haben: Weil die großen christlichen Kirchen beständig Mitglieder und Einnahmen verlieren, wird jeweils jede achte der 300 Kirchen und der 210 kirchlichen Gemeindehäuser in sieben Jahren nicht mehr benötigt. In Expertengesprächen fanden die Forscher heraus, wie die Kirchenkreise darauf reagieren. „In einem gibt es eine detaillierte Liste, welche Gebäude gehalten und welche verkauft werden sollen, in einem anderen werden die eigenen Flächen teils neu genutzt.“ An der St. Trinitatiskirche im Bezirk Altona etwa hat der Bau des Trinitatisquartiers bereits begonnen. Die Kirche wird dort unter anderem Wohnungen schaffen. „Das ist ein spannendes Modell“, sagt Rettich.

Ein riesiges Flächenpotenzial für neue Nutzungen sehen die Forscher zudem auf den Hamburger Friedhöfen. Schon heute läge von den 900 Hektar ausgewiesenen Friedhofsflächen in der Stadt etwa die Hälfte vermutlich brach, weil die Bestattungskultur sich verändert habe, heißt es.

Und was könnte auf all den ehemaligen Grundstücken von Tankstellen, in früheren Kinos, Kaufhäusern, Bankfilialen, Kirchen und Gemeindehäusern oder an ihrer Stelle entstehen? Die Forscher schlagen unter anderem Handwerkerhöfe, Gründerzentren, vertikale Farmen, Serverparks vor. Zumindest in der Innenstadt werde es keine langen Leerstände verwaister Gebäude geben, ist Rettich überzeugt. „Der Markt ist da sehr erfinderisch und wird schnell neue Nutzungen realisieren.“ Insgesamt aber rät der Stadtplaner zu einer vorausschauenderen Flächen- und Nutzungsplanung der Stadt.

„Hamburg braucht eine Vision“

Das sieht auch Professor Henning Vöpel so. „Hamburg muss eine Idee entwickeln, wie es in 20, 30 Jahren aussehen will – und dann damit beginnen, diese Vision auch gegen etablierte Gewohnheiten und Besitzstandswahrung umzusetzen. Das passiert noch zu wenig“, sagt der ehemalige Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts, der inzwischen das Centrum für Europäische Politik führt.

Vöpel sieht auch im Hafen weitere Flächen, die schon jetzt für den Seegüterumschlag nicht mehr benötigt würden. Die Stadt zögere aber, sie für neue Nutzungen wie Wohnquartiere oder eine industrielle Nutzung freizugeben. Wenn es vornehmlich privaten Investoren überlassen bleibe, wie einzelne frei werdende Grundstücke neu genutzt werden, könne keine zusammenhängende Veränderung der Stadt gelingen. In Hamburg werde das Bestehende oft nur weitergeführt, statt echte Veränderungen der Stadt voranzutreiben. „Das erfordert viel Mut und eine größere Idee davon, wie die langfristigen Potenziale der Stadt über die nächste Wahl hinaus erschlossen werden können.“

Hamburg verändert sich – zur Stadt der kurzen Wege

Die Vielzahl nun frei werdender Flächen biete die Freiräume für eine grundlegende Transformation der Stadt und dafür, Entwicklungen in der Vergangenheit rückgängig zu machen. „Vor 150 Jahren gab es sehr gute Gründe, Industrie- und Wohngebiete voneinander zu trennen. Das führt noch heute dazu, dass viele Menschen täglich weite Wege durch die Stadt machen. Heute brauchen wir diese strikte Trennung zwischen Arbeits- und Wohnort nicht mehr“, so Vöpel.

Ihm schwebt eine Stadt der kurzen Wege und lebenswerten Quartiere vor, in der die Bewohner alle Alltagswege binnen einer Viertelstunde zu Fuß, per Rad oder mit dem öffentlichen Nahverkehr absolvieren können. Das Konzept des Stadtplaners Carlos Moreno hat einen selbsterklärenden Namen: die 15-Minuten-Stadt.