Hamburg. Petra Vorsteher und Ragnar Kruse haben mehrere Firmen groß gemacht – jetzt wollen sie Künstliche Intelligenz in Hamburg voranbringen.

Die Gesichtserkennung beim iPhone, das autonome Fahren oder die neue Suchmaschine ChatGPT – sie alle basieren auf Künstlicher Intelligenz (KI beziehungsweise AI für Artificial Intelligence). Seit mehreren Jahren engagieren sich Petra Vorsteher und Ragnar Kruse, diese neue Technologie in Hamburg zu etablieren. Zuvor hatten sie das Softwareunternehmen Intershop mitaufgebaut und später Smaato gegründet. Nun investieren sie in Start-ups, beraten Unternehmen und haben das Not-for-Profit-Netzwerk AI.Hamburg geschaffen, das den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen forcieren will.

Hamburger Abendblatt: Ich habe die KI-Suchmaschine ChatGPT gefragt, welche Frage ich stellen soll. Ihr Vorschlag: Was sind die jüngsten Durchbrüche oder Fortschritte in der KI-Forschung oder Entwicklung?

Ragnar Kruse: Keine schlechte Frage – das zeigt, was KI inzwischen zu leisten imstande ist. Vor rund 20 Jahren sind wir in eine Ausgründung des Deutschen Forschungszen­trums für Künstliche Intelligenz (DFKI) eingestiegen. Damals aber waren neuronale Netze noch zu rechenintensiv und damit nicht leistungsfähig genug. Das hat sich in den letzten Jahren massiv geändert, erst durch die die Infrastruktur der Rechenleistung, dann mehr und mehr durch Open Source Software, die jeder frei verwenden, verändern und weitergeben kann. Man muss nicht mehr alles selber programmieren, sondern kann mit unterschiedlichsten Tools einfach Lösungen erstellen. ChatGPT ist erst der Anfang – und ein Durchbruch zugleich. Dank ChatGPT bekommt KI eine Öffentlichkeit, kommt im Alltag an. Nun gilt es, Anwendungen zu finden, die uns wirklich voranbringen.

In welchen Bereichen sehen Sie große Potenziale für KI?

Petra Vorsteher: Zum Beispiel in der Medizin und Diagnostik. In Hamburg gibt die Hamburger Firma FuseAI, die sich auf die Diagnose von Prostatakrebs beim MRT konzentriert. Deren KI-Software kann mit 98-prozentiger Korrektheit Krebs erkennen. Sie wertet schnell und zuverlässig MRT-Bilder aus. Richtig gute Mediziner brauchen 20 bis 30 Minuten, Auffälligkeiten zu erkennen. Das ist sehr ermüdend. Und auch ein Arzt hat vielleicht mal eine Geburtstagsfeier hinter sich und einen schlechten Tag. Mit dieser KI-Analyse bekommt jeder Arzt eine sehr gute Grundlage.

Kruse: Die Software ist schneller, sie braucht zwei Minuten und zeigt dem Arzt die auffälligen Stellen. Manuell liegt der Anteil der Fehldiagnosen bei bis zu 15 Prozent. Das heißt: Bei jedem sechsten wird der Krebs unter Umständen nicht rechtzeitig erkannt. Laut Statistik könnte man so jedes Jahr viele Leben retten. In Deutschland sterben 13.000 Männer jährlich an Prostatakrebs.

Das Beispiel zeigt, dass funktionierende KI ein hohes Maß an Daten erfordert. Wird da der Datenschutz zum Hindernis?

Kruse: Kranke sind bereit, ihre Daten zur Verfügung zu stellen, weil sie ein Interesse an der systematischen Nutzung haben. Und man kann Daten anonymisieren. Wichtig wäre aber, dass die Verwertung von Daten der Normalfall wird. Da bleiben wir hinter den Möglichkeiten zurück. In Deutschland dreht sich die Debatte eher um Risiken als um die Chancen. Bislang ist diese Technik erst in der Schweiz möglich, FuseAI hofft aber auf die Zulassung in der Europäischen Union im Frühjahr. Gerade die Gesundheitsprophylaxe könnte davon profitieren. Die Daten könnten 30- oder 40-Jährige über individuelle Risiken aufklären. Dann könnten sie über die Änderung ihres Lebensstils Krankheiten verhindern.

Welche weiteren Chancen sehen Sie?

Kruse: Die Hamburger Firma DPV Analytics bietet Auswertungen von 72-Stunden-EKG, die bislang eine aufwendige Angelegenheit sind. Das Unternehmen hat ein kleines Gerät entwickelt, das nur auf die Brust geklebt wird. Das kann man online leihen, drei Tage tragen und bekommt dann die Auswertung zugeschickt. So lassen sich acht unterschiedliche Herz-Krankheiten erkennen.

KI hilft auch Kantinen und Kassen. So verkürzt sie zum Beispiel Warteschlangen

Vorsteher: Ein Arzt übernimmt die Analyse und spricht mit dem Patienten. Auch für Kinder sind solche Langzeit-EKG viel schonender.

Kruse: Inzwischen lässt sich sogar mit diesem kleinen Armring (er zeigt auf sein Handgelenk) der Blutdruck zuverlässig mehrmals in der Stunde messen. Das funktioniert ohne Manschette, weil beim ersten Mal das Gerät mit einer Manschette kalibriert wird. Mithilfe dieses Referenzwertes kann der optische Sensor den Blutfluss messen. So ein Gerät kostet 230 Euro und liefert sehr genaue Auswertungen in meine Handy-App über einen längeren Zeitraum. KI wertet dann die Daten aus.

Wo kann KI sonst helfen?

Vorsteher: Mein Lieblingsbeispiel ist die Anwendung in Bäckereien: Bäckerei Junge zum Beispiel setzt die KI eines Lübecker Unternehmens ein, um zu berechnen, welche Produkte die Filialen an welchen Tagen für den Kunden bereithalten sollten. Wie viele Brötchen müssen sie schmieren, wie viele Torten backen? Verschiedenste Parameter fließen ein, der Wochentag, der Wetterbericht, die Saison, die Location. So konnte die Bäckerei ihre Abfälle insgesamt um 40 Prozent senken.

Kruse: Früher mussten sich die Bäcker auf Kenntnisse und Bauchgefühl verlassen. Nun haben sie nicht nur weniger Abfall, sondern sind zugleich seltener ausverkauft, weil die Planung besser funktioniert. Das hilft, Umsatz zu steigern und Kosten zu senken.

Vorsteher: KI hilft auch Kantinen und Kassen. So verkürzt sie Warteschlangen, weil die Geräte erkennen, was sich auf dem Teller befindet, und buchen den Betrag gleich online vom Konto ab. Das sind Lösungen, die jetzt auf der Internorga im März gezeigt werden.

"Wir wollten das Know-how in AI.Hamburg zusammenbringen"

Worin liegt die Aufgabe Ihres Netzwerks AI.Hamburg?

Vorsteher: Uns ist aufgefallen, dass im Norden ein sehr großes Potenzial für KI besteht, ob im Bereich der Start-ups, an Universitäten und in Unternehmen. Alle arbeiten aber sehr fragmentiert. Wir wollten das Know-how in AI.Hamburg zusammenbringen und haben mit anderen Netzwerken in Deutschland „AI for Germany“ geschaffen. Mittlerweile existieren neun Landesinitiativen. Und mit dem „Transatlantic AI Exchange“, das wir mitbegründet haben, bringen wir Experten aus dem Silicon Valley in den USA und Deutschland zusammen.

Welche Chancen liegen darin für die Volkswirtschaft?

Kruse: Enorme Chancen. Allein Deutschland könnte das Bruttosozialprodukt in dieser Dekade um elf Prozent erhöhen – da reden wir von 400 Milliarden Euro pro Jahr. In China liegt dieser Zugewinn sogar bei 26 Prozent. Dort wird systematisch daran gearbeitet, KI in die Wirtschaft, in die Gesellschaft und die Schulen zu bringen. Und die Entwicklung ist extrem dynamisch. Vor vier Jahren war es schwer, Talente hier in Hamburg zu bekommen. Mittlerweile haben wir über 120 AI-Firmen in Hamburg. Entscheidend wird sein, dass Standardprodukte an den Markt kommen, genutzt werden und diese AI-Start-ups eine kritische Masse aufbauen. Nur so werden wir als Wirtschaft, als Land in der Lage sein, diese Technologie gewinnbringend zu nutzen.

Vorsteher: Unsere Passion erklärt sich durch unsere Erfahrung bei unserer vorherigen Firma Smaato. Dort hatten wir teilweise sechs KI-Projekte parallel betreut und schnell die Möglichkeiten erkannt. Allein mit einem Projekt konnten wir mit der Investition von 600.000 Euro drei Millionen einsparen. So wuchs der Wunsch, diese Technik voranzubringen.

KI: Ist es Chat GPT? Oder wer schreibt hier wirklich?


  • Macht ChatGPT Jobs in Hamburg bald überflüssig?

  • Schreibt ChatGPT bald Hausaufgaben für Hamburgs Schüler?

  • Sie investieren zugleich Geld in KI-Start-ups.

    Vorsteher: Unser Hamburg AI Invest hat bereits in 14 Firmen investiert. Eine davon, Enapter, ist vor zwei Jahr an die Börse gegangen. Das ist eine Wasserstoff-Firma, die mit KI ihre Elektrolyse optimiert. Als der Gründer die Firma gestartet hat, waren dort zehn Mitarbeiter beschäftigt, mittlerweile sind es 250. Das Unternehmen stellt 2,4-Kilowatt-Anlagen her, die modulweise zu immer größeren Einheiten zusammengebaut werden können. In den Anlagen steckt viel Sensorik, sodass über maschinelles Lernen und KI die Wasserstoffproduktion optimiert wird.

    In den USA heißt es Venture-Capital, das klingt nach Adventure – nicht nach Risiko

    Ich zitiere mal einen Satz: „Wer auch immer der Technologieführer in Bereich KI wird, wird die Welt regieren.“ Stimmt das?

    Kruse: Auf alle Fälle stimmt es für die Wirtschaft. Das ist schon heute so, Google, Apple, Microsoft, AMD, Nvidia, Tesla arbeiten bereits viel mit diesen Technologien. Elon Musk steckt hinter OpenAI, einem US-Unternehmen, das jetzt gerade überall durch die Presse geht.

    Der Satz stammt von Wladimir Putin. Deshalb sollten wir gewarnt sein. Es gibt unterschiedliche Studien: Die einen sagen, China liegt in der KI bereits vorne. Andere sehen die USA vor England, Finnland, Deutschland und Schweden. Was sagen Sie?

    Kruse: Das ist schwer zu beantworten. Es geht eben nicht nur um die Anzahl der Patente, sondern letztendlich um die Anwendung: Wir haben in den europäischen Ländern einen hohen Anteil an Lehre und Forschung, bringen das Know-how dann aber nicht auf die Straße. In den USA ist es anders: Dort gibt es einen größeren IT-Markt, und Unternehmen sowie Gesellschaft sind viel offener für neue Techniken. China verordnet von oben: Die Regierung hat weitreichende Programme aufgelegt und denkt sehr langfristig; die Chinesen haben den Ehrgeiz, nach oben zu kommen. Wir müssen dringend die PS auf die Straße bringen, sonst fallen wir zurück. Wir haben allein hier in Hamburg mehr als 100 Professoren an über zwölf Universitäten, die Maschinelles Lernen und KI in unterschiedlichen Disziplinen lehren. Daraus müssen bald Lösungen für den Markt entstehen, die skalierbar sind. Entscheidend ist nicht, was in zehn Jahren möglich ist, sondern was jetzt geht.

    Vorsteher: Deshalb haben wir unseren AI Fund für europäische Start-ups ins Leben gerufen. Wir stehen gerade am Ende unseres Fundraisingprozesses und haben schon zwei, drei Firmen, in die wir unbedingt investieren wollen, weil wir glauben, dass sie wichtig für die Wirtschaft sein können. Zugleich bieten wir den Service an, als Berater für Unternehmen passgenaue AI-Firmen und AI-Technologien zu suchen. Wir finden die Technologien und Start-ups, die sie weiterbringen, ob als lizenzierte Software, als Partner oder als Übernahmekandidaten.

    Kruse: Deutschland ist stark. Wir haben viel Talent, viele Professoren, viele Studenten. Woran es mangelt, ist das Wagniskapital, um Ideen in Unternehmen zu verwandeln. In den USA wird zehnmal mehr Geld eingesetzt, um in KI-Firmen zu investieren.

    Start-ups sind Schnellboote der Innovation

    Vorsteher: Schon die Sprache ist entlarvend: In den USA heißt es Venture-Capital, das klingt nach Adventure. Wir aber sprechen von Wagnis- oder gar Risikokapital.

    Kruse: Start-ups sind die Schnellboote der Innovation. Sie müssen vernünftig unterstützt werden, sie benötigen Kapital. Zugleich müssen wir den Gründern systematisch vermitteln, wie man erfolgreich werden kann. Von Anfang an muss die Internationalisierung Teil des Businessplans sein. Wer nicht gleich daran denkt, wie er sein Geschäft richtig groß machen kann, wird immer Schwierigkeiten haben, es dann auch zu tun.

    Die Zahlen sprechen eher gegen den Standort ...

    Kruse: In der Tat: Es gibt in Europa 4000 KI-Firmen, rund 700 davon in Deutschland. In den USA sind es mehr als 12.000. Und Israel kommt mit einem Achtel an Bevölkerung auf 1200 Firmen. Und es wird leider nicht besser – die Zahl der KI-Start-ups war im vergangenen Jahr hierzulande rückläufig. Wir müssen lernen, mehr Start-ups zu gründen und diese zum Erfolg führen. Das Potenzial hätten wir. Mir schwebt die Vision „Gründer für Gründer“ vor – dass Unternehmer ihre Erfolge und auch Fehler mit kommenden Gründern teilen. Und es bedarf eines Ortes, wo wir die Menschen zusammenbringen – warum nicht im Karstadt-Sport-Gebäude? Das steht doch leer.

    Vorsteher: Eine „Elbphilharmonie der Innovation“, das ist unser Ziel. Ein großes Gebäude, in dem mehr als 50 oder 100 Start-ups arbeiten, wo wir die Innovationsabteilung von Unternehmen unterbringen und immer mehr Start-ups helfen, erfolgreich zu werden und international zu skalieren. Dies in einer Location in der Innenstadt, die auch den Bürger einbezieht und mit Ausstellungen und Veranstaltungen, quasi als Reallabor, teilhaben lässt. Und wie bei der Elbphilharmonie, die Weltklassekünstler anzieht, hat dies internationale Sogkraft für die besten Experten und macht Hamburg zur neuen „Destination for Innovation“.

    Kruse: Es ist unser Ziel, einen Anfang zu machen und Hamburg weiter voranzubringen. Wir müssen nur sehen, dass wir mehr Gleichgesinnte und Privatinvestoren hinter uns sammeln. Wir können nicht immer nur auf den Staat warten. Mehr erfolgreiche Gründer braucht das Land! Gründer für Gründer!