Hamburg. Immer wieder kommt es zu tödlichen Kollisionen. Große Reedereien ändern jetzt ihren Kurs – allen voran Hapag-Lloyd.
Es geschah im Juli vor eineinhalb Jahren. Ein Frachtschiff zog von der Türkei Richtung Niederlande, als es bei ruhiger Fahrt im Golf von Biskaya einen leichten Schlag gab. Das Schiff setzte unbeirrt seine Reise fort. Erst im Hafen von Terneuzen in den Niederlanden zeigte sich, was passiert war: Das Schiff hatte einen vorbeiziehenden jungen Finnwal getroffen.
Das 15 Meter lange Tier hing tot über der Bugnase des Frachters. Eine von der Universität Utrecht durchgeführte Obduktion ergab, dass der Wal noch am Leben war, als das Schiff ihn rammte. Ähnliches war kurz zuvor einem Schiff der US-Navy passiert. Auch dieses hatte – auf der anderen Seite der Welt – einen Wal totgefahren, dessen Kadaver den Rest der Reise über der Bugnase hing. Es sind spektakuläre Ereignisse. Aber sind es Einzelfälle?
Meerestiere: Immer öfter rammen Schiffe Wale
90 Prozent aller Güter werden auf dem Seeweg transportiert. Etwa 90.000 Schiffe verkehren derzeit täglich auf den Weltmeeren, transportieren Fracht oder Menschen. Und nach Schätzungen der Internationalen Maritimen Organisation(IMO) der Vereinten Nationen wird der Schiffsverkehr auch in den kommenden 30 Jahren deutlich wachsen. Das sind schlechte Nachrichten für Wale. Denn dass die Tiere mit Schiffen kollidieren, ist tatsächlich keine Ausnahme. Leider überschneiden sich bisher viele der am stärksten befahrenen Schifffahrtswege der Welt direkt mit den Routen, die Wale zwischen ihren Futterplätzen und Brutgebieten durchschwimmen.
„Nur die wenigsten Opfer solcher Kollisionen werden aber bekannt, Fälle wie der junge Finnwal sind die Spitze des Eisbergs“, sagt der Hamburger Experte Andreas Dinkelmeyer vom International Fund for Animal Welfare (IFAW) in Deutschland. Bekannt würden die Fälle nur, wenn Walkadaver an Land gespült werden oder von Walbeobachtungsschiffen auf dem Wasser treibend entdeckt würden, wie ein Pottwal, der kürzlich im Mittelmeer gefunden wurde. Dem hatte ein Schiff die gesamte Fluke (Schwanzflosse) weggerissen. Er lebte noch kurz, als man ihn fand, verendete aber dann.
Hohe Dunkelziffer an Unfällen
Mehr als die Hälfte der Pottwale, die an den griechischen Küsten stranden, weisen Anzeichen von Schiffskollisionen auf. Experten schätzen, dass für jeden durch eine Schiffskollision getöteten Wal von dem wir erfahren, mindestens 20 unbemerkt sterben. Allein im Sommer 2021 schätzte Dinkelmeyer die Zahl auf 240. Tendenz steigend. „Wächst der Schiffsverkehr, wächst auch das Risiko für Kollisionen mit Walen“, sagt er. „Zusammenstöße mit Schiffen gehören inzwischen zu den häufigsten unnatürlichen Todesursachen bei Walen“, sagt Heike Zidowitz vom World Wide Fund for Nature (WWF). Und die Bedrohungen sind mit der Globalisierung gewachsen.
„Durch die industrielle Fischerei, Schiffskollisionen, Schadstoff-, Plastik- und Lärmbelastung, Lebensraumverlust und die Klimakrise werden die Wanderwege von Walen oft zu tödlichen Hindernisparcours.“ Wie groß die Gefahr der Begegnung ist, zeigt eine Studie der International Whaling Commission (IWC) über den Golf von Panama. Dort wurden Schiffsdaten mit den Routen von Buckelwalen verglichen, die mit Sendern versehen per Satellit überwacht wurden. Ergebnis: Von 15 mit Sendern ausgestatteten Walen hatten acht in nur elf Tagen 98 Begegnungen mit 81 verschiedenen Schiffen innerhalb eines Umkreises von 200 Metern.
Naturschützer: Änderung der Schiffsrouten dringend notwendig
Auch in der Schifffahrtsindustrie wird dieses Problem inzwischen wahrgenommen. Der Verband Deutscher Reeder (VDR) reagierte im vergangenen Jahr. Als erster nationaler Verband empfahl er seinen 150 Mitgliedsunternehmen ihre Schiffsrouten zu verlegen, um das Risiko von Kollisionen mit Walen zu verringern.
Der Verband fasste den Beschluss, nachdem ihn eine Koalition von Umweltverbänden auf der Basis wissenschaftlicher Informationen aufgefordert hatte, die Schiffsrouten zu überdenken, die kritische Lebensräume von gefährdeten Pottwalen im Mittelmeer sowie Blauwalen vor der Südküste Sri Lankas durchqueren. „Die Routenänderungen sind dringend notwendig, um Zusammenstöße zu vermeiden, die für Wale oft tödlich enden“, so Zidowitz
Wanderwege der Tiere werden zum tödlichen Hindernisparcours
Einer, den das Thema schon viel länger beschäftigt als nur ein Jahr, ist Wolfram Guntermann. Ein Seemann durch und durch. Er fuhr lange als nautischer Offizier bei verschiedenen Linien. 1996 wurde Guntermann mit gerade einmal 36 Jahren Kapitän bei Hamburgs Traditionsreederei Hapag-Lloyd. Schon 1999 verließ er aber die Brücke und übernahm Führungsaufgaben für seine Reederei an Land. „In eben jenem Jahr hatte ich meine erste Konferenz mit dem World Shipping Council in Boston, bei der es um den Schutz der Wale vor der US-Ostküste ging.“ Guntermann, der heute Vorträge über das Problem hält, skizzierte Lösungen, um Kollisionen des Bostoner Schiffsverkehrs mit den nordatlantischen Glattwalen zu vermeiden, die hier vorbeiziehen.
„Das Hilfreichste ist die temporäre Einrichtung von sogenannten ATBA (Area to be avoided), also Zonen, die zu bestimmten Zeiten von der Schifffahrt gemieden werden sollten“, sagt Guntermann. Vor Boston habe man eine solche Zone eingerichtet, die von April bis Juni gemieden werden sollte. Können die Schiffe aber nicht ausweichen, plädiert Guntermann in diesen Zonen für die Herabsetzung des Fahrtempos. „Zehn bis zwölf Knoten anstatt 20“, sagt er. Dadurch würde die Gefahr der Kollision mit Walen deutlich verringert.
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Meerestiere: Hapag-Lloyd hat den Whale-Safe Award 2022 erhalten
Auch im Santa Barbara Channel vor der kalifornischen Küste gibt es inzwischen eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Dort ist ein tiefer Graben – ideale Jagdgründe für Blauwale. „Es handelt sich ja immer nur um wenige Meilen. Das tut der Schifffahrt nicht weh“, sagt Guntermann, inzwischen Direktor für Umweltschutz bei Hapag-Lloyd. Seit Jahren kämpft er zudem mit dem World Shipping Council darum, die Blauwal-Population vor der Südküste Sri Lankas zu schützen, wo es ein hohes Verkehrsaufkommen gibt. Das offizielle Schiffsleitsystem lenkt die Route direkt durch den Lebensraum der sanften Riesen.
„Leider konnten wir die Regierung noch nicht zu Änderungen bewegen. Aber die weltgrößten Reedereien fahren nun freiwillig etwa 15 Seemeilen, also lediglich 28 Kilometer weiter südlich der derzeitigen Routen an dem Gebiet vorbei“, so Guntermann. Sein Einsatz wurde belohnt: Seine Reederei Hapag-Lloyd hat den Whale-Safe Award 2022 erhalten. Sie ist von der Organisation Friends of the sea als diejenige internationale Schifffahrtsorganisation ausgezeichnet worden, die sich am stärksten für die Verringerung des Risikos von Schiffsunfällen mit Walen einsetzt.