Hamburg. Tina Unruh leitet die neue Hamburger Stiftung Baukultur, die den Dialog beleben will. Die 51-Jährige erwartet große Veränderungen.

So viel Aufbruch war selten. Die Bürger streiten für ihre Stadt, mitunter für einzelne Bauten, das Thema Stadtentwicklung bewegt plötzliche Massen. Da passt es in die Zeit, dass sich auch eine Stiftung des Themas annimmt – im März hat sich die Hamburger Stiftung Baukultur (HSBK) gegründet. Sie will den Dialog beleben und Debatten zwischen Fachleuten und der Stadtgesellschaft anfachen.

„Die großen Herausforderungen wie Klimakrise, Digitalisierung oder der demografische Wandel verändern unseren Lebensraum spürbar, und Baukultur kann konstruktiv dazu beitragen, Lösungen für alle zu entwickeln“, heißt es selbstbewusst.

Stadtentwicklung: Warum in der Krise auch Chancen liegen

Von Beginn an dabei ist die Architektin Tina Unruh, die zugleich stellvertretende Geschäftsführerin der Anstifterin, der Hamburgischen Architektenkammer, ist. Als Geschäftsführerin der neuen Stiftung kommt ihr eine Schlüsselrolle zu. Und spätestens seit dem November, in dem die Stiftung einen ganzen Monat das Jupiter, das alte Karstadt-Sport-Warenhaus, bespielte, ist auch vielen Hamburgern die HSBK ein Begriff.

„Viele Menschen bemerken gerade, dass wir anders mit unserem gebauten Erbe umgehen müssen“, sagt die 51-Jährige. Gemeinsam soll es darum gehen, die Stadt zukunftsfähig zu machen – und Lösungen für die großen Herausforderungen zu entwickeln. Eine zentrale Rolle spielten dabei der Klimawandel und die Schonung von Ressourcen. „Wir müssen andere Wege finden, mit unserem Bestand umzugehen“, sagt Unruh. „Leider reißen wir zu viel ab – wie zum Beispiel das Commerzbank-Areal mit dem Hochhaus von Godber Nissen. Das finde ich sehr bedauerlich, dass dieses fantastische 70er-Jahre-Haus verschwindet.“ Sie wünscht sich, zumindest Bauteile davon anderswo wiederzuverwerten. „Das wäre für mich ein gangbarer Weg, wenn man schon rückbaut.“

„Wir sollten mehr ausprobieren“

Deutlich sympathischer ist ihr das Stehenlassen oder das Weiterbauen. „Die Stadtgestalt darf sich wandeln, sie darf sich ändern. Aber sie muss auch ihre Geschichte weitererzählen, das macht unsere europäischen Städte aus.“ Eine Möglichkeit für leer stehende Gebäude sei die vorübergehende Umnutzung, so wie es derzeit beim Karstadt-Sport-Haus gelebt wird. Aus Zwischennutzungen könnten mittelfristig auch neue Funktionen wachsen, hofft Unruh. So lasse sich die sogenannte graue Energie, also die Rohstoffe, die beim Bau bereits verwendet wurden, weiternutzen und der CO2-Ausstoß reduzieren. „Wir sollten mehr ausprobieren“, ist sich Unruh sicher.

Dabei nimmt sie auch ihre eigene Zunft in die Pflicht: „Als Architektin muss ich darauf achten, mit den Ressourcen schonend umzugehen und möglichst wenig CO2 zu emittieren, aber auch eine sinnvoll Nachnutzung zu ermöglichen.“ Warum aber hat das Thema Nachhaltigkeit die Baustellen erst so spät erreicht? Tina Unruh sieht eine Ursache in der Renditeorientierung vieler Investoren. „Nachhaltigkeit spielte da bisher weniger eine Rolle. Durch die Niedrigzinspolitik hatten wir viel Geld im Markt, das in Immobilien als sogenanntes Betongold geparkt wurde.“

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Dabei sei mitunter wohl auch mal am Bedarf vorbeigeplant worden. Die Immobilienwirtschaft habe sehr auf die Bedürfnisse des Finanzmarkts und manchmal weniger auf die realen Bedürfnisse der Stadtgesellschaft geblickt. Wegen der jahrelang niedrigen Energiekosten hätten sich Investitionen in Energiesparen und Nachhaltigkeit wenig gelohnt. Unruh gibt zu, dass auch in ihrem Studium Nachhaltigkeit noch ein Thema der „Wollsockenfraktion“ gewesen sei, bevor es dann in den vergangenen Jahren endlich als relevant eingestuft wurde.

Der technologische Wandel verändert auch Wege in Städten

Heute hingegen „ist der Druck da“. Einerseits verschärft der Bund die Förderkriterien, andererseits verlangen EU-Vorgaben, dass nachhaltig investiert werden muss. Auch die Fondsgesellschaften als große Investoren werden diese Wende nun vehement einfordern. „Da schließt sich jetzt glücklicherweise langsam die Lücke.“

Ein zweiter großer Treiber der Veränderung neben dem Klimawandel ist die Digitalisierung der Stadt. Sie ermöglicht in Gebäuden ganz neue Möglichkeiten – etwa eine Mischnutzung. „Inzwischen lassen sich über Apps Dinge steuern, die ich früher kaum organisieren konnte. Zum Beispiel lassen sich Räume besser buchen“, nennt Unruh einen Aspekt. So könnten in ein und demselben Raum eine Ausstellung, am Abend ein Tanzkursus und am nächsten Tag eine Sitzung stattfinden.

Der technologische Wandel verändert auch Wege in Städten fundamental: So werden Transportketten kürzer, wenn beispielsweise Ersatzteile nicht mehr über Tausende Kilometer herangekarrt werden, sondern mittels 3-D-Drucker in sogenannten Fab Labs, gut ausgestatteten Werkstätten, hergestellt werden. Zugleich macht die Technisierung viele Spezialräume wie beispielsweise Ton- oder Fernsehstudios überflüssig, weil heute das Handy die gesamte Technik in einem kleinen Gerät vereint.

Mit dem demografischen Wandel verändern sich die Ansprüche an die Stadt

Das dritte Schlagwort ist der demografische Wandel. „Die Bevölkerung wird immer älter – damit scheiden zunehmend Menschen aus dem aktiven Erwerbsleben aus. Zugleich gibt es in der Gesellschaft einfach weniger junge Menschen“, stellt Unruh fest. Die Folge: Der Fachkräftemangel verschärft sich.

  • Fünf Fragen zur Stadt
  • Meine Lieblingsstadt ist Hamburg – sie ist mein Heimathafen, aber ich habe auch andere Städte sehr gern. Vor längerer Zeit habe ich in Neapel leben dürfen und später auch viel Zeit in Zürich verbracht, zwar eine Stadt ohne Meer, jedoch mit einem großen See. Zwischendurch war ich in den USA, aber ich bin doch immer nach Hamburg zurückgekommen. Irgendwie gehört mein Herz hierher.
  • Mein Lieblingsstadtteil ist die Jarrestadt. Als wir vor einigen Jahren zurückkamen, fand ich es schön, in ein großes städtebauliches Ensemble zu ziehen, das aus einem Lehrbuch stammen könnte. Ich bin Architektin, und ich fühle mich da wahnsinnig wohl. Aber das liegt natürlich auch an den Menschen.
  • Mein Lieblingsort ist Kampnagel. Dort kann man wirklich alles finden. Schon die Geschichte gefällt mir: Früher wurden Kräne hier produziert und über das Wasser durch Hamburg gezogen. Heute kann ich da ins Kino gehen, etwas essen oder trinken, Kunst und Kultur erleben, aber auch konsumfrei einfach dort sein, ohne dass mich jemand wegschickt. Es ist ein beeindruckender Ort in einem unaufgeregten Viertel.
  • Mein Lieblingsgebäude ist der Alte Elbtunnel. Mit diesem Ingenieurbauwerk bekommt man eine andere Perspektive auf die eigene Stadt. Jeden Gast, der mich in Hamburg besucht, schleppe ich dorthin und schicke ihn einmal nach Steinwerder. Ein weiteres Gebäude, das mich fasziniert, gibt es leider nicht mehr, die Stadthalle von Fritz Schumacher im Stadtpark. Ihre Gebäudeteile waren mit dem Park räumlich verschränkt. Die Festhalle bot Platz für 10.000 Menschen, es gab Terrassen, Milchbars, Musikpavillons, einen großen Kuppelsaal. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört beziehungsweise das Baumaterial später anderweitig verwendet. Reste davon sind noch heute mit dem Wasserbecken für die Modellboote, im Schwimmbad und in dem Biergarten erkennbar. Ich finde es spannend, Spuren solcher Festarchitekturen für die Stadtgesellschaft zu entdecken.
  • Mit der Abrissbirne würde ich nichts niederreißen, nur zurückbauen, wenn alles hinterher auch zirkulär weiterverwendet würde. Dann gäbe es vielleicht ein paar Bauten, die man zugunsten von Sichtachsen wieder zurücknehmen könnte.

Wenn die Generation der Babyboomer ins Rentenalter kommt, verändert sich auch die Nutzung der städtischen Räume. Barrierefreiheit werde noch wichtiger, ebenso die passende Mobilität. „Und Vereinzelung und Vereinsamung könnten ein Riesenproblem in den Metropolen werden.“ Schon heute liege der Anteil der Single-Haushalte in Hamburg bei über 50 Prozent. „Darum müssen wir uns als Architekten kümmern. Warum bauen wir so viele Zwei- bis Vierzimmerwohnungen, wenn wir doch der Vereinzelung begegnen sollten?“

Es sei klüger, Wohnungen zusammenzulegen, Hausgemeinschaften zu bilden und den Quartiersgedanken zu beleben. „Mich bewegt die Frage, warum der sogenannte Markt auf immer gleiche Wohnungsgrundrisse setzt und kaum Innovationen zulässt. Vielleicht ist es die Macht der Gewohnheit, vielleicht fehlt es aber auch an Modellen und an mehr Offenheit für Neues.“ Unruh wählt ein Beispiel: „Wenn ich mein Leben lang Auto fahre und nichts ausprobiere, tue ich mich mit dem Wechsel zum Fahrrad schwer – ich kenne ja keine andere Mobilität –, und dann sehe ich vielleicht auch nicht ein, wieso Fahrradwege gebaut werden sollen.“

„Tolle Quartiere sind auch in Zeiten entstanden, in denen wenig Geld zur Verfügung stand"

Die Geschäftsführerin der Baukulturstiftung plädiert dafür, vermehrt Räume für die Gemeinschaft zu entwickeln, die nicht nur kurzfristigen Renditeversprechen gehorchen. Am Ende könne sogar eine Chance darin liegen, dass der Gesellschaft weniger Geld zur Verfügung steht. „Tolle Quartiere sind auch in Zeiten entstanden, in denen wenig Geld zur Verfügung stand.“ Die großen Wohnungsbauquartiere der 20er-Jahre funktionierten sehr gut wie etwa in Dulsberg. „Ich glaube, auch in Zukunft kann vieles passieren. Das wird in jedem Fall eine interessante Zeit.“

Eine durchweg positive Bilanz zieht sie nach dem Monat der Baukultur im Jupiter, dem früheren Karstadt-Sport-Haus. „Wir konnten viel Laufpublikum ansprechen: Sie ahnen nicht, wie oft Leute auch hereinkamen, Schuhe kaufen wollten und sich wunderten, wo denn Karstadt geblieben sei. Sie haben sich dann neugierig angeschaut, was hier los ist“, berichtet Unruh. Ihr Resümee: „Es gibt einen riesigen Bedarf auf allen Seiten, sich auszutauschen, auch Nöte kundzutun. Wir müssen gemeinsam diskutieren, wie und wohin sich die Stadt entwickelt und wie kleine Strukturen und Nachbarschaften funktionieren.“

Die Hamburger Stiftung Baukultur hatte im Jupiter auf 2000, vielleicht 2500 Besucher gehofft. Am Ende kamen mehr als 4000 Interessierte. „Das ist ein überwältigender Erfolg. Sowohl die Veranstaltungen als auch die kleinen Formate fanden ihr Publikum. Es war sehr vielfältig, aber nie theoretisch und abgehoben. Das hat den Menschen Freude gemacht und sie angesprochen.“

"Der ungewohnte Raum ist auch ein Erfolgsgeheimnis"

Sie sieht in den Zwischennutzungen, die die Hamburger Kreativgesellschaft fördert, große Chancen: „Solche Räume können wandern. Es muss nicht immer dasselbe Haus sein, aber wir benötigen dringend konsumfreie Räume, in denen wir einander begegnen.“ Es müsse auch nicht immer und überall nur um Stadtentwicklung gehen, Kunst, Kultur oder Kreativität sind gute Motoren für Pioniernutzungen.

„Das Haus hat manchmal richtig vi­briert. Wir hatten Veranstaltungen, die waren ganz klein, aber es wurde so intensiv diskutiert, wie ich es selten erlebt habe. Der ungewohnte Raum ist auch ein Erfolgsgeheimnis, er hat Menschen inspiriert. Orte anders kennenzulernen, die Perspektive zu wechseln, ist wichtig.“

Plädoyer für die 15-Minuten-Stadt, eine Metropole der kurzen Wege

Unruh, die lange in der Schweiz gelebt und gelehrt hat, sieht in der heraufziehenden Wirtschaftskrise durchaus auch Chancen für die Stadtentwicklung: Fehler der Stadtplanung aus der Nachkriegszeit, wie die konsequente Trennung in Wohnen, Einkaufen, Arbeiten, lassen sich nun beheben. „Wir müssen die Funktionstrennung überwinden. Die City hat ein Pro­blem, weil sie seit Jahrzehnten zu stark auf das Einkaufen fokussiert ist.“

Das gelte aber nicht nur für die Innenstadt, sondern genauso für Wohnquartiere, die in der Pandemie gespürt haben, dass hier eine gesunde Durchmischung fehlt. „Und auch die City Nord als Bürostandort muss sich noch weiter wandeln. Wir benötigen die 15 Minuten Stadt, in der wir wieder vieles binnen 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen können. Gerade angesichts des demografischen Wandels werden vielfältige Alltags-Angebote in der Nachbarschaft noch wichtiger.“

Aber wird noch gebaut, wenn sich Investitionen kaum mehr lohnen? „Die Zinsen steigen, es wird weniger Geld ins Bauen, in Immobilien fließen. Im Leerstand öffnen sich aber auch neue Räume.“ Unruh plädiert dafür, grundsätzlich anders zu rechnen. „Bis vor Kurzem wurde der Bestand nach dem Verkauf von Grundstücken reflexartig abgebrochen. Da benötigen wir einen Wertewandel hin zur Ressourcenschonung.“ Denn Baustoffe würden knapp. „Wir können auch nicht alle Neubauten nur in Holz bauen – so viel Holz haben wir gar nicht.“

Weniger Geld könne ein Mehr an Kreativität bringen

Weniger Geld könne ein Mehr an Kreativität bringen. „Viele Mittelstädte versuchen schon, Innenstadt-Konzepte zu entwickeln, in denen Kitas, Spielplätze, Jugendräume Platz finden, aber auch ganz andere Dinge. Das ist für die, die weitermachen möchten wie bisher, sicher nicht immer einfach.“

Gerade Hamburg sei eine Kaufmannsstadt. „Natürlich ist Geld ist wichtig, aber am Ende des Tages lautet die Frage: Ist das alles?“ Mit neuen Antworten könne die Stadt als Lebensraum aus der Krise gestärkt hervorgehen.