Hamburg. Statt Menschen mit Behinderung einzustellen, zahlen viele Hamburger Unternehmen lieber Strafgelder – trotz Fachkräftemangels.

Nach jahrelanger Krankheit und Operationen stand Dennis Szucka kurz davor, sich komplett vom Arbeitsmarkt zu verabschieden. „Die Perspektive war, eine Erwerbsunfähigkeitsrente zu beantragen, doch damit wollte ich mich nicht abfinden“, sagt der heute 49-Jährige, der sieben Jahre Kranksein hinter sich hat: Bandscheibenvorfall, Behandlungen, Operation, Komplikationen.

Aus geplanten vier bis acht Wochen Krankenhaus und Reha wurden am Ende sieben Jahre. Seit 2019 hat er wieder einen Job als Administrator beim Hamburger Unternehmen Akquinet, das Dienstleistungen rund um die IT anbietet.

Inklusion Hamburg: Menschen mit Behinderungen länger arbeitslos

Krankheit oder Unfall – und plötzlich ist man schwerbehindert. „Viele wissen nicht, dass ein sehr großer Teil schwerer Behinderungen erst im Laufe des Lebens entsteht“, sagt Sönke Fock, Geschäftsführer der Agentur für Hamburg, der die Arbeitsmarktzahlen für den November bei der Unternehmensgruppe Akquinet vorstellte. „Wir denken bei Behinderungen immer an Menschen im Rollstuhl, aber dieses Bild stimmt nicht“, sagt Fock. Gerade angesichts des Fachkräftemangels sollte keiner zurückgelassen werden.

Unter den rund 74.000 Jobsuchenden in Hamburg sind schwerbehinderte Menschen mit einem Anteil von 4,5 Prozent eine der kleinsten Gruppe. 3367 von ihnen weist die Statistik als arbeitslos aus. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Rückgang von 1,7 Prozent, aber die Zahl verändert sich seit Jahren kaum (s. Grafik). „Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit dieser Gruppe beträgt aktuell 204 Tage und ist damit fast 50 Tage länger als im Durchschnitt“, sagt Fock.

Akquinet outsourcing: 40% sind der Mitarbeitenden schwerbehindert

Eigentlich müssen rund 5200 private und öffentliche Arbeitgeber in der Hansestadt mit mindestens 20 Beschäftigten schwerbehinderte Menschen einstellen, doch 34 Prozent der Firmen verzichten darauf und zahlen lieber eine Abgabe. Mehr als 12.000 Pflichtarbeitsplätze bleiben so unbesetzt. „Ich kann nicht nachvollziehen, warum Hamburger Unternehmen so zögerlich sind, ihrer Beschäftigungspflicht mit motivierten, loyalen und fachlich qualifizierten Menschen mit Behinderung nachzukommen“, sagt Fock und erwartet hier ein Umdenken.

Ein Unternehmen, das seit seiner Gründung 2004 „anders denkt“, ist die Akquinet outsourcing. Ob es sich dort um IT-Servicemanagement, Infrastruktur oder den Betrieb von Rechenzentren dreht – mindestens 40 Prozent der Beschäftigten haben eine Schwerbehinderung. Das Unternehmen wurde zusammen mit der Stiftung Alsterdorf gegründet. Bei Akquinet bekam auch Dennis Szucka seine Chance. Mit der langen Krankheit war auch der soziale Abstieg verbunden.

„Ich hatte viele Versicherungen, aber keine Berufsunfähigkeitspolice“, sagt Szucka, der seine Ersparnisse auflösen musste und schließlich von Hartz IV lebte. Auch die zu teure Wohnung musste er aufgeben. „Aber schon während meiner Krankheit habe ich mich weitergebildet“, sagt der gelernte Datenverarbeitungskaufmann, der vor seinem Leidensweg für Lufthansa und Otto tätig war.

"Für mich ist wichtig, dass ich mich nicht verstecken muss"

Die ersten vier Wochen arbeitete Szucka nur drei Stunden am Tag, inzwischen ist er eine Vollzeitkraft. Für dieses Pensum investiert er täglich anderthalb Stunden in Physiotherapie, denn Schmerzen in Händen und Rücken gehören noch immer zu seinem Krankheitsbild. Aber er spürt auch, dass die Arbeit ablenkt von den körperlichen Beschwerden.

„Deshalb wollte ich auch zurück ins Arbeitsleben. Für mich ist wichtig, dass ich mich nicht verstecken muss, sitzend und stehend arbeiten kann und von einem tollen Team unterstützt werde“, sagt Szucka. „Wenn ich mal einen schlechten Tag habe, dann nehmen die anderen Kollegen Rücksicht, da kann ich auch ein bis zwei Stunden später kommen.“

„IT und Inklusion passen sehr gut zusammen“, sagt Jens Ehlers, Geschäftsführer der Akquinet outsourcing. Wichtig sei, die Arbeitsplätze auf die Fähigkeiten der Menschen mit Behinderung auszurichten und sie entsprechend ihrer Qualifikation zu fördern. Outsourcing steht dabei nicht für schlechtere Arbeitsbedingungen, sondern soll Kunden signalisieren, dass sie ihre IT auslagern können, so wie das die Stiftung Alstertal gemacht hat.

Arbeitslosigkeit in Hamburg geht im November leicht zurück

Nach der Diagnose Multiple Sklerose (MS) musste der Kfz-Mechaniker Oliver Zietz umschulen. Doch auch als IT-Systemkaufmann hatte er große Probleme, einen Job zu finden. Inzwischen arbeitet er bereits seit 2005 bei Akquinet und betreut im Desktop-Service Kunden. Auch er arbeitet Vollzeit. „Wichtig ist für mich, dass der Stresspegel nicht zu hoch wird, aber hier ist das gut geregelt.“

Insgesamt geht die Arbeitslosigkeit in Hamburg derweil den dritten Monat in Folge leicht zurück. Im November waren 74.087 Personen erwerbslos gemeldet. Gegenüber dem Vormonat ist das ein Minus von 0,5 Prozent. Allerdings gibt es schon seit mehreren Monaten eine gespaltene Entwicklung, denn im Vorjahresvergleich nimmt die Zahl der Jobsuchenden zu. Damit gibt es aktuell rund 2700 oder 3,8 Prozent mehr Arbeitslose als vor einem Jahr. Die Arbeitsagentur führt das vor allem auf geflüchtete Ukrainerinnen zurück. „Sie erhalten seit dem 1. Juni über das Jobcenter Hilfe zum Lebensunterhalt und zugleich einen sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt“, sagt Fock.

12.700 freie Stellen in Hamburg: Aber für wen?

Noch ist am Hamburger Arbeitsmarkt von Konjunkturproblemen aufgrund der hohen Energiepreise nichts zu spüren. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat einen neuen Rekordwert erreicht. Innerhalb eines Jahres sind in Hamburg 30.400 neue Stellen entstanden. Insgesamt gab es im August (neuere Zahlen liegen nicht vor) in Hamburg 1.055.200 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, das sind 6600 mehr als im Juli 2022.

Innerhalb von fünf Jahren entstanden in Hamburg rund 65.500 neue Arbeitsplätze, wobei darin die Zahl der weggefallenen Stellen schon enthalten ist. Wer jetzt auf Stellensuche ist, findet vor allem in den Branchen Logistik (1900), Handel (1400), Bau- und Ausbauberufe sowie Gastronomie mit je 1000 unbesetzten Stellen für den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Insgesamt gibt es in der Stadt nun 12.700 freie Stellen. Viele Menschen mit Behinderung haben auch davon nichts.