Norderstedt. Eduard Schuffert geht selbstbewusst mit seiner Behinderung um. Er ist stolz, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Es gab da diese Zeit in seinem Leben, da hat er sich jeden Morgen gefragt, wie es wohl wäre, jetzt arbeiten zu gehen. Einen Job zu haben . Eine Aufgabe! Wie es wäre, Geld zu verdienen und zu Hause ausziehen zu können. Wie es wäre, wenn man ihm bei Vorstellungsgesprächen nicht immer verstohlene Blicke zuwerfen – und ihn dann ablehnen würde. Wenn er einfach so wäre wie die anderen.
Es war die schwerste Zeit in seinem Leben . Sie dauerte zehn Monate.
Fast fünf Jahre ist das jetzt her, doch dieses Gefühl von damals hat Eduard Schuffert nie vergessen. Dieses Gefühl, den Ansprüchen nicht zu genügen. Nicht genug zu sein. Weil er behindert ist. Der 28-Jährige hat keine Probleme damit, das Wort zu benutzen. Er weiß, dass der Begriff bei anderen Betroffenen verpönt ist – bei ihm nicht. „Ich habe eine Behinderung!“, sagt er selbstbewusst. „Daran kann ich nichts ändern. Ich kann sie nicht verstecken und nicht ignorieren. Aber ich kann damit offen umgehen.“
Manchmal macht er sogar selbst Witze darüber. Über seine Gehbehinderung und die Spastik. Er bringt gerne andere zum Lachen, auch wenn es auf seine eigenen Kosten ist. „Hab eine Tetra Spastik. Tetra – wie Tetra Pak“, sagt er und lacht selbst darüber. Tetra sei die griechische Vorsilbe der Zahl vier. „Weil alle vier Gliedmaßen betroffen sind“, erklärt Schuffert und schiebt gleich noch einen Fachbegriff hinterher: Cerebralparese. Eine bleibende Störung des Haltungs- und Bewegungsapparates, aufgrund einer Schädigung des unreifen Gehirns.
Der Norderstedter freut sich sehr, dass er einen Job hat
Es gibt da diese Tage in seinem Leben, da ist er einfach nur glücklich. Glücklich und dankbar, fast schon ein bisschen demütig. Dass er heute einen Job hat und arbeiten gehen kann, Anerkennung bekommt. Manchmal, wenn er morgens um kurz nach sechs mit dem 393er fährt und er die Leute im Bus über die Arbeit stöhnen hört, schüttelt er den Kopf und grinst ein bisschen. „Die meisten Menschen wissen einfach nicht, was für ein Privileg es ist, arbeiten gehen zu dürfen“, sagt Schuffert. Natürlich sei er morgens auch müde, wenn er Frühschicht hat. Müde, aber nie mürrisch wie die anderen. „Wenn etwas zu selbstverständlich ist, weiß man es nicht mehr zu schätzen“, glaubt er.
Er selbst hat nie damit aufgehört. Nie, seit ihm ein Nachbar seiner Eltern von Akquinet erzählte und ihm ein Vorstellungsgespräch vermittelte. Nie seit er eine Chance bekommen – und den Job erhalten hat. Seit er wie ein Mensch behandelt wird – und nicht wie ein Behinderter. „Plötzlich hat es keine Rolle mehr gespielt, welches Handicap ich habe – und was ich deswegen nicht kann“, sagt Eduard Schuffert und klingt selbst fast noch ein bisschen verwundert, wie unvoreingenommen er aufgenommen wurde. „Es ging nur darum, was ich kann und wie ich meine Stärken im Job nutzen kann.“
Er ist in einer Welt mit Behinderten aufgewachsen
Er arbeitet im Werkschutz von Akquinet – einem IT-Dienstleister, der vier Rechenzentren in Hamburg, Itzehoe und Norderstedt betreibt. Das erste wurde bereits 2004 zusammen mit der Evangelischen Stiftung Alsterdorf gebaut und von Anfang an inklusiv betrieben. „Meine Aufgabe ist es, die Rechner zu beschützen und dafür zu sorgen, dass niemand unerlaubt ins Rechenzentrum kommt“, sagt Schuffert. Er ist am Empfang für die Anmeldung von Besuchern zuständig und begleitet Gäste durch den Sicherheitsbereich. Er ist stolz auf die Aufgabe. Stolz darauf, Teil eines Teams zu sein. Bei einer Firma zu arbeiten, die für ihr Engagement mit dem Inklusionspreis des Hamburger Senats ausgezeichnet wurde. „Ich wurde nicht als Behinderter aufgenommen. Sondern als neuer Kollege“, sagt Eduard Schuffert.
Von den meisten wird er Eddi genannt. Weil es netter klingt. Oder weil einige von ihnen Eduard nicht aussprechen können. Er ist in einer Welt mit Behinderten aufgewachsen. Im Kindergarten, in der Schule und auf dem Internat – in jeder Einrichtung gab es Menschen mit Behinderung. Es sei gut gewesen, mit Gleichgesinnten zusammen zu sein. Aber leicht war es trotzdem nicht.
Schuffert kann seinen Lebenslauf lückenlos aufzählen, hat jede Station, jedes Datum im Kopf: Hauptschulabschluss, Berufsvorbereitungsjahr an der Gewerbeschule G3 am Berliner Tor. Weiterbildung am Berufsbildungswerk in Bremen und dann dreijährige Ausbildung als Bürokraft. Und dann – die große Leere. Keine Chance auf einen Job. „Normale Menschen haben es ja oft schon schwer, Arbeit zu finden. Als Behinderter ist es fast unmöglich.“
Schon als Kind sei ihm klargewesen, dass er anders ist. Dass er anders geht, anders läuft, sogar anders spricht. Weil er eine extreme Frühgeburt war, Ende des sechsten Monats auf die Welt kam. Wegen des Sauerstoffmangels kam es zu einer Lähmung einer Gehirnhälfte. „Habe drei Monate um mein Leben gekämpft“, sagt Schuffert, ganz nüchtern. Aber hey! Alles ok! „Ich bin einfach nur froh, dass ich lebe.“ Dass es ihm gut geht!
Gut, ja wirklich gut! Er führt ein erfülltes Leben. Er hat einen Job und eine eigene Wohnung. Nachdem er in den ersten Monaten von seinem Elternhaus in Heidenau zu Akquinet nach Norderstedt pendelte, jeden Tag zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück, ist er 2016 schließlich nach Garstedt gezogen, ganz in die Nähe des Herold-Centers. Von hier sind es nur fünf Minuten mit dem Bus morgens zur Arbeit. Wenn er Frühschicht hat, fängt er um 6.30 Uhr an, bei Spätschicht um 12.30 Uhr. Obwohl er morgens nicht gut aus dem Bett kommt, mag er die Frühschicht lieber. Weil er dann schon um 15 Uhr Schluss hat, frei. Zeit. „Zeit für…“, sagt er und macht eine kleine Pause. Er will ein bisschen Spannung aufbauen, das macht ihm Spaß. Dann sagt er stolz: „Für meine Frau!“
Eduards nächstes Ziel: Er will den Führerschein machen
Seine Frau. Er mag den Begriff, benutzt ihn immer wieder. Seine Frau. Vor ein paar Tagen hatten sie Hochzeitstag, den ersten. „Hätte nie gedacht, dass mir das mal passiert“, sagt er und meint: dass er sich über das Internet verliebt und es was Ernstes wird. Dass er heiratet! 2016, kurz nachdem er bei Akquinet angefangen hat, haben sich die beiden im Netz kennengelernt und immer mal wieder geschrieben. Zuerst nur unverbindlich, doch seit 2017 sind sie zusammen. An manchen Tagen kann er es selbst kaum glauben, wie sich sein Leben in den letzten Jahren verändert hat. Verbessert hat. Sogar den Führerschein macht er jetzt. „Kann man sich das vorstellen?“, fragt er und meint damit irgendwie auch ein bisschen sich selbst. Schließlich hätte er das früher selbst kaum für möglich gehalten.
Wegen seiner Behinderung musste er ein ärztliches Gutachten erbringen, dass er fahrgeeignet ist – und hat sich eine Fahrschule gesucht, die auf Menschen mit Handicap spezialisiert ist. Einmal pro Woche hat er Fahrstunde, gestern war es die vierte. „Und ich war wieder total aufgeregt und nervös“, sagt er und lacht. Ein paar Freunde haben ihm erzählt, dass Autofahren Spaß macht. Aber so weit ist er noch nicht. Noch, betont er. Aber er ist sich sicher, dass auch diese Zeit noch kommen wird!